Ob man den Kontakt mit seinen Eltern abbrechen will, muss jeder selbst entscheiden. Für mich war es der richtige Schritt. Kein einfacher. Aber ein notwendiger. Niemand, wirklich niemand, bricht leichtfertig den Kontakt zu seiner Familie ab. Man tut es, weil man sich retten muss. Ich habe ein Vierteljahrhundert gedacht, ich sei eine schlechte Tochter. Heute weiß ich: Wenn man sich sein ganzes Leben falsch fühlt, liegt das oft nicht an einem selbst – sondern an denen, die einen so behandelt haben.
Ich bin als Einzelkind in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen, in einer Kleinstadt in Bayern, ohne Internet. Meine Kindheit war alles andere als schön. In meiner Familie wurde viel Alkohol getrunken. Zwei, drei Bier am Tag waren normal. Dass das nicht überall so ist, habe ich erst viel später verstanden. Geld war immer knapp, aber für Alkohol und Zigaretten reichte es immer.
Gründe für Kontaktabbrüche sind vielfältig. Extreme Fälle wie Misshandlung oder sexueller Missbrauch sind selten. Häufiger brechen Kinder aus Familien mit Suchtproblemen oder getrennten Eltern den Kontakt ab. Studien nennen als Hauptgründe emotionalen Missbrauch, unterschiedliche Werte, ständige Respektlosigkeit, oder das Gefühl nicht unterstützt oder akzeptiert zu werden. Meist geht der Abbruch von den Kindern aus; manchmal sind es die Eltern, manchmal beide Seiten. Zu bestimmten Lebensereignissen sind Kontaktabbrüche wahrscheinlicher, beispielsweise bei einer Trennung der Eltern oder auch bei der Geburt eigener Kinder. Laut einer Studie brechen Kinder den Kontakt meist im Alter zwischen 20 und Mitte 30 ab. Der Kontakt zu Vätern geht häufiger schon vor dem Erwachsenenalter verloren.
Keine Liebe, kein Schutz, kein echtes Interesse
Ich war nie im Kindergarten, hatte keine Freunde in der Nachbarschaft und später in der Schule wurde ich gemobbt. Meine Eltern stellten mich zuhause mit Essen ruhig. Und sie entluden sehr oft ihren Frust an mir. Es gab Ohrfeigen, psychische Aggression, ständige Kritik. Schon beim Essen wurde ich angemeckert, ich solle bloß nicht krümeln. Alles, was Kinder eigentlich selbstverständlich bekommen sollten – Liebe, Schutz, echtes Interesse – haben meine Eltern mir nie gegeben. In meiner gesamten Schulzeit waren sie auf einem einzigen Elternabend. Mehr nicht.
Nach dem Abitur bin ich sofort weggezogen, zum Studium. Endlich raus. Aber raus hieß nicht frei von den Problemen, die ich mit mir trug. Ich wusste nicht, wie man mit anderen Menschen umgeht, wie man sich abgrenzt. Ich war zu nett, zu leise, zu naiv. Ich musste das alles erst lernen. Und erst im Studium habe ich auch erkannt, dass ich eine Zwangsstörung habe.
Trotzdem bin ich an Weihnachten weiter nach Hause gefahren. Ich dachte, es gehört sich so. Aber jedes Mal bedeutete es für mich Stress. Ich weiß noch, wie ich meine betrunkenen Eltern von meinem Onkel abholte und schon im Auto beschimpft wurde. Oder wie meine Mutter auf meinem Bett saß und aufzählte, was für ein schlechter Mensch ich sei. Ich wollte einfach nur weg.
Und dann war da dieser eine Moment, der das Fass zum Überlaufen brachte: Ich war 26, hatte meinen ersten Job in München. Die erste Reaktion meiner Eltern: Ich könne sie ja jetzt finanziell unterstützen. Dann war ich mit Freundinnen in Amsterdam, Geburtstag feiern. Zwei Tage später stand die Polizei vor meiner Haustür. Meine Eltern hatten sie gerufen, weil ich mich nicht gemeldet hatte. Die, die sich nie für mich interessiert hatten, machten sich plötzlich Sorgen?
Stalking nach Kontaktabbruch
Ich beschloss, den Kontakt abzubrechen. Ich nahm ihre Anrufe nicht mehr an, blockierte irgendwann die Nummer. Dann fingen sie an, mich zu stalken. Ich lebte in München und sie kamen jedes Wochenende, klingelten Sturm an der Tür. Beim ersten Mal öffnete ich noch. Sie wollten mit mir reden, meinten sie.
Ich sagte ihnen: „Ich brauche Abstand. Ich will das gerade nicht." Aber sie akzeptierten das nicht. Und dann kamen ganz schnell die Aggressionen zurück, die Beschimpfungen und Vorwürfe. Mir ging es zu der Zeit psychisch schlecht, ich verletzte mich selbst. Noch heute trage ich Narben davon. Es war ihnen egal. Ich war ihre Altersvorsorge. Mehr nicht. Das war der letzte Kontakt. Das ist jetzt mehr als zehn Jahre her.
Manche Eltern reflektieren nach einem Kontaktabbruch, holen sich Hilfe. Meine nicht. Sie haben weiter angerufen, Briefe geschrieben, standen jedes Wochenende vor der Tür. Ich versteckte mich, atmete kaum, wenn es an der Tür klopfte. Irgendwann packte ich meine Sachen und zog über Nacht nach Berlin. Ohne die Adresse zu hinterlassen.
Ein Jahr später stand mein Vater im Innenhof. Ich floh zur Polizei, verheult. Und der Polizist sagte nur: „Ziehen Sie halt um.“ Am nächsten Tag ging ich zum Gericht und bekam eine einstweilige Verfügung. Trotzdem hörten die Briefe nicht auf: Sie schickten alte Babyfotos, machten Schuldzuweisungen, Vorwürfe. Nur besuchen konnten sie mich nicht mehr – die Tickets von Bayern nach Berlin waren zu teuer.
Vor ein paar Jahren kam dann der Brief von der Justiz: Mein Vater war gestorben. Ich bin nicht zur Beerdigung gegangen. Ich spürte keine Freude, aber eine Erleichterung, ich konnte aufatmen. Ich habe nicht getrauert.
Kontaktabbrüche zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern sind keine Seltenheit. In der Pairfam-Studie, einer langjährigen Untersuchung mit über 10.000 Teilnehmenden in Deutschland, gaben sieben Prozent an, keinen Kontakt zum Vater zu haben, zwei Prozent keinen zur Mutter. Emotional distanziert fühlten sich noch mehr. Innerhalb von zehn Jahren berichtete fast jede zehnte Person über eine Phase der Entfremdung zur Mutter, jede fünfte zum Vater. Besonders häufig sind Kontaktabbrüche bei Stiefeltern.
Wir reden sehr oft über Kinder, die den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, wie schlimm das ist – und vergessen dabei die Frage: Was tun die Eltern, dass ein Kind so weit geht und sagt: Ich kann nicht mehr? Meiner Meinung nach sollten wir viel mehr darüber sprechen.
Folgen der psychischen Gewalt
Bei mir haben sich Szenen eingebrannt, die ich nicht vergessen kann. Ich war drei Jahre alt, bin über das Bein meines Vaters gehüpft. Er riss das Bein plötzlich hoch und ich stürzte, knallte mit dem Kinn auf eine Metallkante. Es hat niemand interessiert, ob ich mir wehgetan habe. Auch meine Erfolge bedeuteten nichts. Als ich stolz meinen Bachelor in der Hand hielt und zuhause anrief, kam kein Glückwunsch. Dabei war ich die erste in der Familie mit Studium. Beim Master hieß es, ich sei hochnäsig, arrogant.
Das alles hinterlässt Spuren: Ich feiere keine Geburtstage. Kein Weihnachten. Keinen Muttertag. Ich lasse die Tage einfach vorbeiziehen. Sie machen mich traurig, aber ich kann es auch nicht ändern. Dafür schenke ich anderen gerne viel. Ich will anderen geben, was ich selbst nie bekommen habe.
In England und den USA gibt es Selbsthilfeorganisationen wie „Stand Alone-Community“ und „Together Estranged“. Sie bieten etwa Tipps, wie man mit Feiertagen umgeht – Zeiten, die für viele besonders belastend sind. Laut einer Befragung empfinden 78 Prozent der Betroffenen Muttertag und Vatertag als besonders schwierig, ähnlich belastend sind Geburtstage, Weihnachten, Hochzeiten und Todesfälle. Beratung, Psychotherapie und Selbsthilfegruppen werden oft als hilfreich erlebt. Auch in Deutschland gibt es Selbsthilfegruppen für Eltern („Verlassene Eltern“) und für Kinder etwa als Angehörige von Suchtkranken oder narzisstischen Eltern.
In Berlin war ich dann bei einer Psychiaterin, die mir zu verstehen half, was mir gefehlt hat: Urvertrauen. Dieses sichere Netz, das Kinder brauchen. Die bedingungslose Liebe. All das hatte ich nie. Stattdessen: Kontrolle, Entwertung, Ignoranz. Meine Zwangsstörung hängt auch mit dem auf wenige Tage begrenzten Zugang zu warmem Wasser in meiner Jugend zusammen. Zwei Mal pro Woche duschen. Es waren viele kleine Dinge, die zusammen eine große Wunde ergaben.
Wenn meine Eltern damals einfach akzeptiert hätten, dass ich Abstand brauche, wenigstens für eine Zeit – vielleicht hätte etwas heilen können. Aber sie haben gedrängt, gestalkt, beleidigt. Irgendwann bleibt nur noch Selbstschutz.
Blut ist nicht dicker als Wasser. Man schuldet seiner Familie nichts. Ich habe mir nicht ausgesucht, geboren zu werden. Aber ich kann entscheiden, wie ich leben will – und wer einen Platz in meinem Leben bekommt.