Konservatismus – Ideologie ohne Geschäftsgrundlage?

Von Robert Misik · 17.09.2010
Erika Steinbach hat also mit großer Geste ihren CDU-Vorstandsposten hingeworfen, und auch sonst gibt es ... nun ja, nicht eben einen Aufstand der "Konservativen" in der Union, aber doch aufgeregtes Gemurmel. Dessen Botschaft lässt sich in etwa so zusammenfassen: Wir, die Konservativen, werden an den Rand gedrängt. Man hört uns nicht einmal mehr zu. Aber das ist natürlich nicht bloß ein Resultat banaler Machtverschiebungen innerhalb einer Partei, in der die wirtschaftsliberalen und moderaten Christdemokraten die knorrigen Konservativen ausgebootet haben.
Dem klassischen Konservatismus ist die Geschäftsgrundlage entzogen worden. Dieser wollte, in einer Welt, in der sich tiefgreifende soziokulturelle Änderungen ankündigten und vollzogen, das Bestehende bewahren, das Erprobte nicht auf's Spiel setzen. Letztendlich war er sogar der kapitalistischen Marktwirtschaft gegenüber skeptisch, weil er ahnte, was der Geschäftssinn mit den hergebrachten Werten anrichten kann. Von der Moderne hielt er nichts und auch von der Demokratie nicht viel, diesem gefährlichen Experiment mit den Launen der Masse.

Diese Grundhaltungen des Konservatismus waren natürlich auch schon vor zwei, drei Jahrzehnten fragwürdig geworden – in den aus Sicht heutiger Konservativer goldenen Zeiten, als ein Alfred Dregger in der CDU noch ein gewichtiges Wort mitzureden hatte –, aber heute haben sie sich vollends erledigt. Wenn wirkliche Konservative sich heute umblicken in der Welt, können sie eigentlich nichts mehr vorfinden, das in ihren Augen wert wäre, bewahrt zu werden.

Man sieht das an der konservativen Publizistik und ihrem schrillen, paranoiden Sound, der in etwa lautet: Alles ist fürchterlich. Ob Udo di Fabio, Eva Herman oder Norbert Bolz, überall das gleiche Lied: Feministinnen und Emanzen, der Konsumismus, der Bedeutungsverlust der Kirchen, die sozialdemokratische Gleichmacherei, die Zersetzung der klassischen Familie, der Hedonismus und das Prinzip "anything goes", all das habe unsere Gesellschaften zu Sodom und Gomorrha gemacht.

Die Publizistik kann natürlich gegen die Wirklichkeit in bizarrem Untergang-des-Abendlandes-Stil anschreiben, aber Politik gegen die Wirklichkeit zu machen ist schon schwieriger. Deshalb hat die Merkel-CDU viele jener Modernisierungsschritte gemacht, die man in solchen Fällen gemeinhin als "überfällig" bezeichnet. Kinderkrippen hält man jetzt auch in der Union nicht mehr für Teufelszeug, neuerdings ist man auch dafür, dass Frauen Job und Familie unter einen Hut bringen können, und gegen Rechte für gleichgeschlechtliche Partner sperrt man sich auch nicht mehr. Höchstens in Law-and-Order-Fragen kann man noch irgendwie konservativ sein.

Aber es kommt noch dicker. Auch wenn sich die Gesellschaft wandelte, konnte man ja immerhin noch einen gewissen distinkten Lebensstil hochhalten. Ja, während Rot-Grün regierte, konnte man sich richtiggehend abgrenzen gegen die hedonistischen Alphamänner an der Regierungsspitze mit ihren unzähligen Ex-Ehefrauen.

Aber wer prägt jetzt das Bild der unionsgeführten Regierung? Eine berufstätige Frau im Kanzleramt (die dort nicht in der Küche, sondern in der Chefetage arbeitet), ein schwuler Vizekanzler und ein Parteichef der kleinen Unionsschwester, von dem man den Überblick verloren hat, ob er jetzt eigentlich mit seiner Ehefrau oder der Mutter seines kleinen Kindes zusammenwohnt. Dass man also wenigstens noch im persönlichen Lebensvollzug anders, konservativer agiere, selbst diese Gewissheit ist abhanden gekommen.

Noch der konservativste Konservative weiß insgeheim, dass er mit dem hergebrachten Konservatismus keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlockt. Gleichzeitig merkt er aber, dass ein neuer, aggressiver Rechtskurs durchaus Massen ansprechen kann: der Anti-Islamismus, vor allem wenn er mit populistischer Rhetorik verrührt wird, wenn man sich also zum Fürsprecher der "echten Sorgen" der Menschen gegen die Eliten macht, die angeblich nicht wissen, wie es den normalen Menschen geht. Er blickt also mit einer gewissen Faszination auf die Erfolge von Leuten wie Geert Wilders, mehr vielleicht noch auf den der amerikanischen Tea-Party-Bewegung.

Aber dieser radikale Popular-Konservatismus ist etwas ganz anderes als der Honoratioren-Konservatismus, der in die völlige Bedeutungslosigkeit versunken ist.

Robert Misik, geboren 1966, lebt als Essayist, Buchautor, Blogger und Videoblogger in Wien. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen: "Politik der Paranoia. Gegen die Neuen Konservativen" (2009), "Gott behüte! Warum wir die Religion aus der Politik raushalten müssen" (2008), "Das Kultbuch. Glanz und Elend der Kommerzkultur" (2007). Im Frühjahr 2009 wurde er mit dem Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik ausgezeichnet.
Misik, Robert
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