Komponistin Lera Auerbach

"In jedem Engel steckt ein Dämon und in jedem Dämon ein Engel"

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Porträt der Komponistin vor einem wellenartigem Relief.
Die Komponistin Lera Auerbach ist nicht nur musikalisch tätig, sondern malt auch und erschafft Skulpturen. © Lera Auerbach
Mathias Mauersberger im Gespräch mit Lera Auerbach · 24.05.2019
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Für ihre Komposition "Goetia" hat sich Lera Auerbach von einem Zauberbuch aus dem 17. Jahrhundert inspirieren lassen. Während des Komponierens übernimmt manchmal das Werk das Kommando, erzählt die im Ural geborene Musikerin. Heute ist die Uraufführung in Berlin.
Die Uraufführung von "Goetia" von Lera Auerbach steht kurz bevor. Sie hat das Werk für den RIAS Kammerchor Berlin komponiert, in die Uraufführung vom Pierre Boulez Saal Berlin ist das Michelangelo String Quartet involviert.
Lera Auerbach wurde 1973 im Ural geboren und wurde 1991 Wahlamerikanerin. Sie ist Komponistin, Dirigentin, Pianistin, Autorin und bildende Künstlerin in einer Person.
Das neue Werk Lera Auerbachs beruft sich auf das Schriftwerk "Ars Goetia" aus dem historischen Buch mit dem Titel "Clavicula Salomonis Regis". Das war ein anonym überliefertes Zauberbuch aus dem 17. Jahrhundert. Darin sind 72 Dämonen beschrieben, die von König Salomon angeblich in ein mit magischen Symbolen versiegeltes Bronzegefäß gebannt wurden. Die gebannten Kräfte machte sich Salomon zu Nutze, um den Tempelbau von Jerusalem voran zu bringen.

Salomons Psalm als Inspirationsquelle

Lera Auerbach sagt, dass das Buch nur der Ausgangspunkt für ihr Werk gewesen sei. Dabei betont sie, dass das Wort "daimon" im Griechischen ursprünglich nichts Böses bezeichnete. "Es hat keine negativen Konnotationen. Es wurde synonym mit 'Engel' verwendet. In den griechischen Mythen waren die Götter ja sehr menschlich. Sie konnten Gutes tun, aber auch gemein sein. Sie waren manchmal wütend, manchmal wunderbar." Lera Auerbach sagt, dass die heutige Bedeutung später dazu gekommen sei.
Die Komponistin habe an erster Stelle ihrer Recherche einen Psalm benutzt, der ursprünglich König Salomon zugeschrieben wurde. "Für jeden Geist – wir können sie Geister nennen oder Dämonen – gibt es unterschiedliche Namen, abhängig von den Quellen und der jeweiligen Kultur, denn alle Kulturen haben solche spirituellen Wesen, seien es Botschafter oder Wächter, die Mittler sind zwischen den Menschen und anderen Wesen."
Auerbacher hat rituelle Momente in ihr Werk integriert: "Am Anfang steht der Psalm 90, der auf Griechisch gesungen wird, der vorchristlichen Sprache. Dieser Psalm wurde zum Schutz vor Dämonen gesungen, er ist der Prolog zu meinem Werk." Weiterhin sei das Stück in drei Teile gegliedert mit jeweils 24 Namen. Sie wisse, dass ein so großes Stück von 90 Minuten Dauer schwer für das Publikum fassbar sei. Und so sei es ihr es wichtig, dass das Werk als großer Monolith begriffen würde, gegliedert in einen Prolog und drei Sätze von jeweils 24 Namen.

Ein Pendant zum Vorwerk "72 Engel"

Dieses Werk kann als Schwesterwerk zu "72 Engel" von Lera Auerbach gelten. Sie bestätigt, dass es eine Verbindung der beiden Werke gebe: "Die Idee zu diesem neuen Werk Goetia hatte ich während der Arbeit an '72 Engel'. Allerdings benutze ich bei '72 Engel' ein Saxophonquartett, für die Dämonen dagegen ein Streichquartett. Der Klang des Saxophons ist dem des Shofar sehr ähnlich, einem Horn, das in der Antike auch in Synagogen verwendet wurde. Obwohl das Saxophon ein modernes Instrument ist, hat es diese Anmutung eines antiken Horns."
Der Unterschied zu ihrem Werk, das nun 72 Dämonen beschreibt liegt auch in der Besetzung. "Die Engel sind distanzierter. Die Dämonen wollte ich den Menschen dagegen näher bringen, sie sind sehr verführerisch, und auf eine gewisse Weise sind sie sehr menschlich." Deswegen habe sie sich für das Streichquartett entschlossen, für einen warmen, üppigen, expressiven Klang. "Die beiden Zyklen unterscheiden sich in ihren Gefühlswelten, aber sie haben Ähnlichkeiten. Und in jedem Engel steckt ja auch ein Dämon und in jedem Dämon ein Engel."

Wenn das Werk das Kommando übernimmt

Lera Auerbach hat schon bei früheren Arbeiten bemerkt, dass manchmal das Werk ein Eigenleben zu führen scheint und somit die Machtverhältnisse kippen. Manchmal, so die Komponistin, nutzte das Werk seine Schöpferin als Mittel, um geschaffen zu werden.
Porträt der Künstlerin vor einer gesprenkelten Betonwand.
Lera Auerbach blieb 1991 in den USA, wohin sie eine Konzertreise führte.© Lera Auerbach
"Wenn ich mit einem neuen Werk beginne, habe ich natürlich einen Plan, wie sich das Werk entwickelt. Aber es gibt normalerweise einen Punkt, an dem das Werk das Kommando übernimmt und seine eigenen Regeln diktiert. Und in eine Richtung geht, die gar nicht beabsichtigt war und die einem selbst gar nicht recht ist. Es verlangt Dinge von Dir, von denen Du gar nicht wusstest, dass Du sie kannst."
An so einem Punkt habe man die Wahl, so Auerbach. "Man kann sagen: 'Moment mal, ich bin hier der Boss, Du bist mein Werk, du musst tun, was ich von Dir verlange!'. Oder man sagt: 'Moment mal, ich folge Dir! Und ich werde sehen, wohin mich das führt.'" Wenn man sich darauf einlasse, könne dabei die beste Musik entstehen.

Künstlerisch vielseitig

Lera Auerbach ist künstlerisch vielseitig tätig. Als Pianistin, Autorin, bildende Künstlerin könne sie ihre Inspirationen korrespondierend entfalten: "Es gibt klare Verbindungen zwischen diesen unterschiedlichen Elementen, sie sind alle Teil des kreativen Prozesses. Ich könnte nicht Klavier spielen oder ein Orchester so dirigieren, wie ich es mache, ohne die Kenntnis von Literatur oder von bildender Kunst. All das wurde auch zu einem Teil der Kreativität beim Komponieren."
So berichtet Auerbauch, dass sie bei jedem großen musikalischen Werk, das gerade entstünde, auch andere Stilmittel in Betracht ziehe: Sie male und schaffe Skulpturen, die in Verbindung zur Musik stehen. Das erlaube ihr auch, eine Form oder eine Struktur aus der Perspektive einer anderen Kunstform zu entwickeln. Sie empfinde das als extrem hilfreich. "Wenn ich an einem Punkt nicht mehr weiterkomme, dann muss ich etwas ganz anderes machen. Dann muss ich diese andere Perspektive entwickeln und komme auch wieder auf neue Ideen. Es ist eine organische Einheit. Ich könnte nicht die eine Kunst von der anderen trennen."
(cdr)

Deutschlandfunk Kultur überträgt die Uraufführung am 24. Mai 2019
aus dem Pierre Boulez Saal Berlin.
Live ab 20.03 Uhr in der Sendung "Konzert".

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