Kompendium menschlicher Dummheit

Rezensiert von Martin Tschechne |
In unserer Welt ist alles zum Besten geregelt - und das ist schlecht, meint Evgeny Morozov. Er kritisiert, dass sämtliche Lebensbereiche reguliert und kontrolliert werden. Für alles gebe es eine Lösung. Platz für kreative Wege und Gedanken sieht er kaum.
Mal angenommen, Sie oder ich könnten es uns aussuchen, wo wir die U-Bahn benutzen – Evgeny Morozov empfiehlt, es lieber in Berlin zu tun als in New York. New York sei viel zu sicher.

Erstaunlich auch die Begründung des 1984 in Weißrussland geborenen, heute in den USA lebenden Kulturkritikers: Die Sicherheitsmaßnahmen in der New Yorker U-Bahn hätten eine Perfektion erreicht, die jede nicht in den Blaupausen der Planer vorgesehene Handlung schlicht unmöglich macht – und damit ganz neue Gefahren herauf beschwört.

Totale Kontrolle, die tödlich endet, wenn zum Beispiel Sanitäter dem Opfer eines Überfalls nicht zu Hilfe eilen können, weil sich die Gittertore zum Schutz vor Schwarzfahrern nicht anders überwinden lassen als mit einer gültigen Metro-Fahrkarte.

Kein passendes Kleingeld zur Hand, kein Zugang und also keine Rettung: So sieht sie aus, die Welt, in der alles zum Besten geregelt ist – wobei "zum Besten" für den Autor nur eine Absichtserklärung ist, eine fahrlässig naive Hoffnung und in letzter Konsequenz ein fundamentaler Denkfehler; während eine raffinierte Technologie der Regulierung, der Kontrolle und Überwachung längst installiert ist: in Verwaltung und Politik, in Bildung und Verkehr, den Medien, der Architektur, der öffentlichen Sicherheit, einfach überall.

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Was Morozov in verzweifeltem Zorn und manchmal hilflosem Spott schrieb, ist ein Kompendium menschlicher Anmaßung, Kurzsichtigkeit und Dummheit.

"Die Prognose der Visionäre von Silicon Valley für, sagen wir, 2020 sähe vielleicht so aus: Die Menschheit, ausgestattet mit wirkungsvollen Apparaten zur Selbstbeobachtung, hätte endlich ihre großen Sorgen unter Kontrolle – weil jedermann weniger isst, besser schläft und weniger Emissionen produziert.

Die Fehlbarkeit menschlicher Erinnerung wäre ebenfalls überwunden, weil eben diese Apparate alles aufzeichnen und speichern könnten, was wir tun. Autoschlüssel, Gesichter, jede noch so marginale Nebensächlichkeit: Wir würden sie nie mehr vergessen.

Da wäre kein Anlass mehr, im nostalgischen Sinne eines Marcel Proust der Madeleine nachzuhängen, diesem Gebäck, das süße Erinnerungen an die Kindheit weckt: Auch dieser Moment wäre irgendwo in einem Smartphone gespeichert – oder bald in der alles registrierenden Google-Brille. Wir brauchten einfach nur das Geschehen zurückzuspulen."


Die Ironie in alledem ist nicht zu überhören: krankenkassenkompatible Ernährung, verantwortungsbewusste Mülltrennung und transparente Entscheidungen in Politik und Finanzwesen, am Ende aller Utopien eine arbeitslose Justiz und leere Gefängnisse. Denn Überwachungskameras, gigantische Datenspeicher und detailliert ausgearbeitete Analyseprogramme verhindern jede Übertretung, bevor sie vom Gedanken in die Tat umgesetzt werden kann.

Kritik am Lösungs-Fanatismus
Es wäre eine "Schöne neue Welt", wie sie der Schriftsteller Aldous Huxley beschrieben hat. Bezeichnenderweise erschien sein Roman im Jahr 1932. Oder, um es ironiefrei auszudrücken: Es wäre der eiskalte, unmenschliche Schrecken totaler Unterdrückung und Kontrolle.

Cover: Smarte neue Welt"Solutionism" nennt Morozov das Phänomen, frei übersetzt mit "Lösungs-Gläubigkeit" und daraus folgend: "Lösungs-Fanatismus", einer Haltung, die in ihrem Wesen mit der "Antiquiertheit des Menschen" korrespondiert, wie sie einst der Philosoph Günther Anders beschrieben hat – indem sie nämlich Maschinen und Systeme installiert, die das moralische und intellektuelle Potenzial ihrer Nutzer überfordern.

"Solutionism" bedeutet, die Beweislast umzukehren. Einen Verbrecher oder Terroristen zu verfolgen, bevor die befürchtete Tat begangen ist – und sei es um den Preis, andere, Unbeteiligte einem Generalverdacht auszusetzen. Wer einmal ins Raster der Fahnder geraten ist, der hat es nicht leicht, unbeschädigt heraus zu kommen.

"Solutionism" bedeutet, Wege festzulegen, auch Gedankengänge, bis keine Abweichung mehr möglich ist: Immerhin haben sie so in der New Yorker U-Bahn, anders als in Berlin, jeden Gedanken ans Schwarzfahren unterbunden.

"Solutionism" bedeutet, Daten zu sammeln und zu arrangieren, bis die Algorithmen der Analysten aus schier unendlich vielen Details ein plausibles Bild zusammensetzen können. Ein plausibles, wohl gemerkt – ob es auch ein zutreffendes ist, das ist dann eine andere Frage.

"Die Verfechter dieser Überzeugung verhalten sich, als hätten sie nie ein eigenes Leben gelebt, sondern sich alles, was sie wissen, aus Büchern angelesen – und zwar nicht aus Romanen, sondern aus den Gebrauchsanleitungen für Kühlschränke, Staubsauger und Waschmaschinen."

Diese kleine Schwäche des Buches ist zugleich aber seine Stärke: Morozov wütet. Er schlägt zu. Er fuchtelt mit dem Zeigefinger und, ja, er nervt mit der Marotte, den Begriff "Internet" immer und immer wieder in Anführungszeichen zu setzen.

Und gerade weil Morozov so herzhaft polemisiert, weil er spottet und lacht und Geschichten erzählt, wird auf der anderen Seite deutlich, wie weit wir schon darin fortgeschritten sind, Unabhängigkeit, Abweichung – auch kreative Abweichung – und Gedankenfreiheit im Netz der Daten zu ersticken.

Evgeny Morozov: Smarte neue Welt - Digitale Technik und die Freiheit des Menschen
Aus dem Amerikanischen von Henning Dedekind und Ursel Schäfer
Karl Blessing-Verlag München, Oktober 2013
450 Seiten, 24,99 Euro
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