Kommunalwahlen in der Türkei

Opposition unterschätzt die Macht der Frauen

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Frauen mit erhobener Fraust und lila Haaren demonstrieren in der Istiklal Avenue am Internationalen Frauentag am 8. März 2017 im Bezirk Beyoglu in Istanbul in der Türkei
Die Kraft oppositioneller Frauen, zeige sich zum Beispiel jährlich am internationalen Frauentag auf den Straßen, sagt die Turkologin Ebru Taşdemir. © picture alliance/AA/Arif Hudaverdi Yaman
Ein Kommentar von Ebru Taşdemir · 29.03.2019
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In der Türkei stehen Kommunalwahlen an. Welche Chancen bleiben den Sozialdemokraten als Oppositionsführer in dem quasi autokratisch geführten Land? Wenige, meint Turkologin Ebru Taşdemir, weil sie die Kraft der Frauen und Kurden unterschätzen.
In der Türkei werden wieder die Wahlurnen ausgepackt und kaum jemand schaut mehr so richtig hin. Aber der Blick lohnt sich. Die Türkei in die Schublade "Adieu Demokratie" zu packen und die Schublade fest zu verschließen, hilft nicht. Lehrreich sind diese Wahlen, um zu sehen, was eine Opposition, die eigentlich faktisch kaum noch Spielraum neben der Regierungspartei AKP von Präsident Erdoğan hat, für Trümpfe im Ärmel haben könnte.
Angeführt wird die Opposition in der Türkei durch die sozialdemokratische Cumhuriyet Halk Partisi, kurz CHP. Als älteste Partei des Landes, gegründet durch den Staatsgründer Atatürk, sieht sie sich immer noch als Vertreterin eines säkularen Nationalstaates. Und leider ist genau das Fluch und Segen für die türkische Sozialdemokratie.

Bündnis mit Nationalisten war kein Erfolg

Bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr beispielsweise erhoffte sich die CHP mit der Gründung eines Wahlbündnisses - ausgerechnet mit einer nationalistischen und einer islamistischen Partei - neue Wählergruppen und scheiterte. Die Partei des Staatspräsidenten zog erneut mit einer Mehrheit an Stimmen und einem eigenen Bündnis mit den Rechtsextremen ins Parlament.
Wählerinnen und Wähler der CHP forderten einen Personalwechsel an der obersten Spitze der Partei. Nicht nur hatten es die Sozialdemokraten nicht geschafft die langjährige Regierungszeit der AKP zu beenden, sondern sie hatten es auch nicht geschafft, sich selbst zu erneuern. Der langjährige Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu, der die Partei seit Jahren führt, blieb an seinem Stuhl kleben, trotz Unterschriftenlisten und vielen internen Streitereien in der Partei.

Nette ältere Herren und eine fehlende Streitkultur

Überhaupt: streiten. Was die CHP als Politikstil pflegt, ist der gütige Blick des Klugen auf den Raufbold, mit dem er sich nicht anlegen mag. Während etliche AKP-Oberen derzeit mit übelsten Beschimpfungen auffallen und "Terroristen" oder "Handlanger der bösen Mächte aus dem Ausland" in Richtung Opposition brüllen, pflegen die CHP-Politiker bei ihren wenigen öffentlichen Auftritten den netten Schwiegersohn-Stil.
Die CHP versucht es sachte. Zumindest glauben die Parteioberen, die wirklich ausschließlich männlich sind, dass es reicht, wenn sie die säkularen Türkinnen mit netten männlichen Kandidaten an die Wahlurne locken. Frauen auf der Führungsebene? Fehlanzeige. Die jetzige Parteiführung glaubt nicht an die Macht der Frauen und stellte deshalb auch nur 39 Bürgermeisterkandidatinnen auf, bei knapp 800 Kandidaten.
Es ist 2019, und noch immer weiß die Parteiführung nicht, wie sie die Kraft der oppositionellen Frauen, die sich beispielsweise jährlich zu Tausenden am internationalen Frauentag auf den Straßen treffen, nutzen könnte. Gegen eine autokratisch agierende Regierungspartei anzutreten mag ätzend sein, aber einen der stärksten Trümpfe des Landes, die lebendige Frauenbewegung, nicht zur Kenntnis zu nehmen, ist an Kurzsichtigkeit nicht zu überbieten.

Frauen und Kurden als ausschlaggebende Trümpfe

Diversity-technisch ebenfalls nicht ganz ausgereift ist das Selbstverständnis einer oppositionellen Volkspartei, wenn ein Viertel der Bevölkerung kurdisch ist, aber nirgendwo vorkommt. Die Parteiführung schlägt lieber Purzelbäume in Richtung Nationalisten und Islamisten - im Glauben, damit der nationalistisch-kemalistischen Basis, die bis vor ein paar Jahren noch die Existenz der Kurdinnen und Kurden im Land leugnete, einen Gefallen zu tun.
Aber es ist 2019 und gegen Autokraten kommt man weder mit guten Manieren alter Schule noch mit willkürlichem Ignorieren der demograffischen Sachlage weiter. Frauen und die kurdische Bevölkerung könnten ausschlaggebende Trümpfe im Ärmel der CHP sein. Damit die Schublade "Demokratie" nicht endgültig geschlossen wird.

Ebru Taşdemir ist Autorin, Moderatorin und Journalistin. 1973 in Berlin geboren. Sie studierte Turkologie und Publizistik an der FU Berlin. Sie betreut unter anderem die Nachwuchsförderung bei den Neuen deutschen Medienmachern.

Ebru Taşdemir im Studio 9 im Deutschlandfunk Kultur.
© Deutschlandradio
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