Kommentar zum Wahlwerbespot der Grünen

Philosophie des Cringe

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Szene aus dem Wahlwerbespot der Grünen.
Mit schiefen Reimen ins grüne Idyll: Viele finden das Video der Grünen einfach nur "cringey". © Screenshot / Youtube / BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Von David Lauer · 29.08.2021
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Der neue Wahlwerbespot der Grünen wurde von vielen diese Woche als peinlich eingestuft – und mit "cringe!" kommentiert. Was aber ist philosophisch gesehen cringe? Das fragt sich David Lauer in seinem Kommentar.
Das Wort "peinlich" leitet sich bekanntlich von "Pein", also dem Schmerz ab. Und – sorry, liebe Grünen – ein wehrloses Volkslied so umzudichten, dass darin die Worte "Anschluss an Straße, Bus und Bahn" auf "… und natürlich auch W-LAN" gereimt werden, das ist im buchstäblichen Sinne des Wortes peinlich: Es tut irgendwo in den Eingeweiden weh, und zwar so, dass man sich krümmen möchte.

Die kleine Schwester der Scham

Für genau diese Empfindung hat sich in den letzten Jahren die englische Vokabel cringe eingebürgert, und kein anderer Kommentar findet sich häufiger unter dem Grünen-Wahlspot als cringe, cringe, cringe. Eine philosophische Begriffsbestimmung dieses Modeworts scheint indes noch auszustehen. Versuchen wir es also: Was ist cringe?
Cringe ist zunächst eine Reaktion auf Peinlichkeit. Als peinlich empfinden wir Menschen, die in auffälliger Weise bestimmte soziale Normen verletzen. Und wenn wir merken, dass wir selbst es sind, denen das passiert, dann ist uns das peinlich, weil wir uns in diesem Moment mit den Augen anderer sehen. Darin ist die Peinlichkeit ihrer großen, düsteren Schwester, der Scham verwandt, deren bestechendste Analyse wir Jean-Paul Sartre verdanken.

Dem Blick der anderen ausgesetzt

An der Wurzel von Scham und Peinlichkeit liegt das Bewusstsein, dass wir dem schonungslosen Blick anderer immerzu ausgesetzt sind – weil wir eine Außenseite besitzen, die Dinge über uns verrät, die wir lieber verbergen würden.
Dennoch ist nicht jede wahrgenommene Peinlichkeit cringe. Es macht zum Beispiel einen Unterschied, ob der betreffenden Person ihre peinliche Lage bewusst ist. Ein Redner, der merkt, dass seine Hose gerissen ist, und rot vor Scham versucht, diesen Umstand zu verdecken, verursacht nicht cringe, sondern eher eine empathische Reaktion wie Mitgefühl
David Lauer im Porträt.
Wenn Wahrnehmungswelten kollidieren: David Lauer erkennt in Cringe das Gefühl unserer Zeit.© Privat
Anders hingegen eine Person, der ihr Fauxpas gar nicht bewusst ist, die – möglicherweise als einzige – nicht von der Atmosphäre lähmender Peinlichkeit um sie herum ergriffen wird: Hier kann das sogenannte Fremdschämen einsetzen – eine komplexe Emotion, bei der ich gewissermaßen als Stellvertreter für die Scham einspringe, die bei der betroffenen Person selbst ausbleibt.

Einfach mal im Boden versinken

Aber auch eine solche Situation ist nicht notwendigerweise cringey. Die Gastgeberin, die mit strahlendem Lächeln die Gäste begrüßt, während sie Spinat zwischen den Zähnen hat, weiß nichts von ihrem Missgeschick. Sobald sie es jedoch bemerkt, wird sie sich im Nachhinein mit den Augen ihrer Gäste sehen und deren peinliche Berührtheit verstehen können.
Vergleichen wir dies nun mit einer Person, von der wir spüren, dass sie vollständig blind ist für die Peinlichkeit der Situation – die also gar nicht verstehen würde, was an ihr peinlich sein soll, auch wenn wir es ihr erklärten. Sie würde es schlicht nicht glauben, dass andere ihr Verhalten peinlich finden könnten – wie der fidele Onkel, der bei der Hochzeit anzügliche Knittelverse auf das Brautpaar vorträgt, glucksend vor Stolz und fest überzeugt, allen eine riesige Freude zu machen, während der Rest der Gesellschaft im Boden versinken will.

Die Lücke zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung

Nicht weniger als eine Neujustierung der gesamten Weltorientierung dieser Person schiene notwendig, um ihre Selbstwahrnehmung und die Außenwahrnehmung der anderen in eine gemeinsame Perspektive zu überführen. Und weil das keine reale Option ist, ist die Situation ausweglos. Man kann nichts tun, außer sich möglichst schnell zu verdrücken, und wo das nicht geht, windet man sich in stillem Schmerz.
Diese grell sich aufdrängende, unüberbrückbare Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung: Das ist cringe im eigentlichen Sinne. Und da wir einerseits immer mehr in voneinander abgekapselten Wahrnehmungswelten zu leben scheinen, während es andererseits für immer mehr Menschen zum Leben dazu gehört, das eigene Selbstbild offensiv öffentlich auszustellen, ist Cringe vielleicht das Gefühl unserer Zeit.

David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

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