Kommentar zur Workaholic-Studie

Der Begriff Arbeitssucht führt in die Irre

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Illustration: Ein erschöpfter Mann legt im Büro seine Füße auf den Tisch, davor stehen Akten auf dem Boden.
Wie viel wollen wir in Zukunft noch arbeiten? Und vor allem: Wie sind flexible Modelle für eine gute Work-Life-Balance finanzierbar? © imago images / fStop Images / Malte Mueller
Von Philipp Hübl · 16.04.2023
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Jeder zehnte Erwerbstätige ist arbeitssüchtig – mit dieser These sorgt eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung für Aufsehen. Doch die empirischen Belege dafür seien eher dürftig, meint der Philosoph Philipp Hübl.
Auf den ersten Blick klingt die These von der gefährlichen Arbeitssucht plausibel. Sie scheint die Annahme zu bestätigen, dass die Leistungsgesellschaft uns krank macht oder vielleicht sogar, dass „der Neoliberalismus“ an allem schuld ist. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch: Die Studie und ihre mediale Rezeption sind Paradebeispiele für die Fallstricke der Sozialforschung und der Wissenschaftskommunikation.

Wissenschaftlich fragwürdig

Erstens ist der zentrale Begriff so weit gefasst, dass er wissenschaftlich fragwürdig bleibt: Arbeitssüchtig ist laut Definition jemand, der lange, intensiv und gerne dauerhaft arbeitet, in seiner Freizeit jedoch nicht entspannen kann und ein schlechtes Gewissen hat.
Man hätte also statt „arbeitssüchtig“ auch einfach „sehr ehrgeizig“ sagen können, doch dann hätte der Bericht so alltäglich geklungen, wie seine Ergebnisse tatsächlich sind. In den Medienberichten ist jedoch konsequent von einer „Arbeitssucht“ die Rede, obwohl die Autoren der Studie anmerken, dass es sich gar nicht um eine „anerkannte Krankheit“ handelt.

Moralisch aufgeladen

Hinter dieser Überdramatisierung steckt ein allgemeiner Trend in der Alltagssprache und in der Wissenschaft. Wir fassen moralisch aufgeladene Begriffe viel weiter als bisher, vor allem für Phänomene, bei denen jemand zu Schaden kommt – wie „Missbrauch“, „Gewalt“, „Trauma“ oder „Vorurteil“. Dieses Phänomen heißt in der Forschung „Concept Creep“, also sinngemäß „Begriffserweiterung“.
Beim Begriff „Sucht“ ist das nicht anders. Lange Zeit meinte man damit eine körperliche Abhängigkeit von Drogen. Inzwischen ist aber auch die Rede von „Sexsucht“ oder „Smartphonesucht“. So muss beim vermeintlich „suchthaften Arbeiten“ dann auch statt echter Entzugserscheinungen das schlechte Gewissen als negative Folge herhalten.
Doch eine so weitgefasste Definition ist wenig hilfreich. Denn dann müsste auch die Sorge um die eigenen Kinder als Sucht gelten: Auch dort ist oft ein schlechtes Gewissen im Spiel und das Gefühl, man könne nie abschalten. Eltern wären demnach kinderbetreuungssüchtig.

Kein Nachweis einer Kausalität

Noch schwerer wiegt jedoch, zweitens, dass die Studie allenfalls eine Korrelation nachweist, aber keine Kausalität. Das ist zwar im Vorwort vorsichtig angemerkt, im eigentlichen Bericht und in der medialen Rezeption wird dann aber eine Verursachung unterstellt, also: „Suchthaftes Arbeiten führt zu schlechter Gesundheit.“ Das geben die Daten aber gar nicht her, zumal die Autoren andere Einflussfaktoren wie das Geschlecht oder Persönlichkeitsmerkmale gar nicht erfasst haben.
Überdramatisch klingt, drittens, auch die These, suchthaftes Arbeiten sei „weit verbreitet“, obwohl es in vielen untersuchten Ländern nur bei etwa zehn Prozent liegt. Tatsächlich sind in Deutschland seit 1970 sowohl Überstunden als auch die durchschnittliche Arbeitszeit deutlich gesunken, vor allem durch Teilzeitarbeit. Nur in wenigen Bereichen arbeitet ein kleiner Teil der Erwerbstätigen mehr als zuvor, insbesondere im Management.

Eine Entscheidung autonomer Bürger

Und selbst wenn gerade dort ein kausaler Zusammenhang zwischen Ehrgeiz und Gesundheitsschäden bestünde: In einer freien Gesellschaft hat jeder das Recht, seinen eigenen Lebenssinn zu finden und dabei seine Gesundheit zu ruinieren. Genauso wie Hedonismus ist Arbeitswut eine Entscheidung autonomer Bürger.
Beides kann persönliche oder gesellschaftliche Kosten verursachen. Doch erst wenn man diese Effekte den Zwängen eines Arbeitgebers zuordnen kann, müssen Gesellschaft und Politik reagieren. Die Forschung muss also weitergehen, aber in Zukunft besser mit einer detaillierten Faktorenanalyse und mit klaren Begriffen. 
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