Kommentar zum 8. Mai

Neue Bedrohungen nicht normalisieren

04:14 Minuten
Ein Blitz erscheint am Himmel über dem beleuchteten Reichstagsgebäude in Berlin
79 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs warnt Sieglinde Geisel davor, neue Gefahren zu verharmlosen: den Aufstieg der Rechten und den Klimawandel. © imago
Ein Einwurf von Sieglinde Geisel · 08.05.2024
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Am 8. Mai 1945 endete mit der Kapitulation der Wehrmacht der Zweite Weltkrieg in Europa. Inzwischen gefährden wieder Krieg, Faschismus und Klimakrise die Friedensordnung. Wer sich an Gefahr gewöhnt, wird umso eher ihr Opfer, meint Sieglinde Geisel.
Die Welt ist aus den Fugen. Nicht nur ist der große Krieg zurückgekehrt nach Europa, auch der Geist des Faschismus ist aus der Flasche entwichen, in die er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gesperrt worden war.
Das Zerbrechen der politischen Ordnung, die gut 70 Jahre gehalten hatte, wird auch in unserer Haltung gegenüber den Ereignissen manifest. Wir haben uns an Nachrichten gewöhnt, die uns vor zehn Jahren noch um den Schlaf gebracht hätten. An die Wahlerfolge der AfD haben wir uns ebenso gewöhnt wie daran, dass in immer mehr Ländern faschistische Regierungen an die Macht kommen.
Und wir haben uns noch an etwas anderes, viel Unheimlicheres, gewöhnt: an 38 Grad in Sibirien, an Wassertemperaturen wie in der Badewanne, allerdings im Meer vor der Küste Floridas, oder, ganz aktuell, an gefühlte 50 Grad auf den Philippinen. Die Meldungen über immer neue Temperaturrekorde winken wir nur noch müde weg. Auch, dass angenehme 28 Grad Anfang Mai bedeuten, dass es im Juli 38 Grad heiß werden könnte, wollen wir lieber nicht zur Kenntnis nehmen.

Aufschwung der Rechten und Klimawandel

Wir haben es geschafft, beide Bedrohungen unserer Zivilisation zu normalisieren: den weltweiten Aufschwung der Rechten und den sich beschleunigenden Klimawandel. Doch nur, weil etwas normal geworden ist, ist es noch lange nicht normal. Wie heißt es bei Erich Fromm: „Der gut angepasste, normale Mensch ist im Hinblick auf die menschlichen Werte oft weniger gesund als der neurotische.“
Unsere Gesellschaft ist tief neurotisch, gerade weil sie so normal erscheint. Die Neurose hat, nach Erich Fromm, folgende Funktion: „Sie mildert eine unerträgliche Angst und macht durch die Vermeidung einer Panik das Weiterleben möglich.“
Was die Normalisierung der politischen Gefahr mit der Normalisierung der ökologischen Katastrophe verbindet, ist die Angst. Denn wer den Klimawandel als Katastrophe anerkennt, kann nicht mehr ohne Angst in die Zukunft sehen. Das rechte Denken nun erlaubt es seinen Anhängern, diese Angst auszublenden und es sich stattdessen in der Opferpose gemütlich zu machen.

Rechtes Denken dient der Angstabwehr

Statt sich um Lösungen für Probleme zu bemühen, sucht man sich einen Sündenbock, seien es Migranten, Klimaschützer oder „die da oben“. Rechtes Denken dient der Angstabwehr, deshalb haben rechte Parteien ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Angstzustands. Daraus erklären sich auch die Attacken auf Politiker anderer Parteien, die Probleme tatsächlich angehen.
Die Neurose der Normalisierung besteht im Leugnen der Realität. Indem man etwas nicht Normales für normal erklärt, verharmlost man es und man erklärt zugleich alle anderen zu Alarmisten. Wer sich an die neue Normalität nicht gewöhnen will, gilt bestenfalls als naiv, im schlimmeren Fall als Störfaktor. Wie man mit denen umgeht, die bei der Normalisierung der Katastrophe nicht mitmachen, zeigt sich etwa darin, wie die Letzte Generation kriminalisiert wurde.
Normalität verleiht uns ein Gefühl der Sicherheit, das ist das Verführerische daran. Doch damit stiehlt man sich aus der Verantwortung. Dass Dinge normal werden, die nicht normal sind, sollte uns alarmieren: Je mehr man sich an eine Gefahr gewöhnt, desto eher wird man ihr zum Opfer fallen.

Sieglinde Geisel studierte in Zürich Germanistik und Theologie und arbeitet als freie Journalistin. Sie ist für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin tätig und lehrt an der Freien Universität Berlin sowie an der Universität St. Gallen. Geisel ist Gründerin von „tell – Onlinemagazin für Literatur und Zeitgenossenschaft“ und schreibt dort regelmäßig.

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