Gefahr apokalyptischen Denkens

Hurra - Die Welt geht unter!

Dramatische schwarze Wolkenformation über Tegernsee
Die Angst vor dem nahenden Ende ist so alt wie die Menschheit selbst. © picture alliance / Martin Ley / Martin Ley
Ein Kommentar von Steffen Greiner |
Die Angst vor der Apokalypse scheint die Gemüter momentan ganz besonders zu beschäftigen. Autor Steffen Greiner sieht in der Endzeitrhetorik eine Gefahr für die Demokratie - unabhängig davon, wie berechtigt die Sorge vor dem Untergang ist.
Der Untergang des Abendlandes ist der älteste Running Gag Europas. Von Platon zu Oswald Spengler zu kreidebleichen Herren in deutscher Provinz beim Anblick einer Kopftuchträgerin, drunter macht der Konservatismus es einfach nicht. Heute geht die Welt an so vielen Fronten unter, dass es schwer ist, den Überblick zu behalten.
Die Doomsday Clock steht auf eineinhalb vor zwölf, der totale Zusammenbruch der Zivilisation wird auch in UNO-Berichten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die kommende Handvoll Jahrzehnte terminiert. Klimawandel, Meeresspiegel, Ressourcenknappheit, biblische Plagen. Von Tempo 30 in Innenstädten und künstlicher Intelligenz ganz zu schweigen.

Gefahr einer Entdemokratisierung

Kurz: Auch abseits mehr oder weniger realistischer Szenarien boomt die Apokalypse als anerkannter Horizont politischer Diskurse. Das könnte zu einem Boom des Politischen führen oder zu einer Entdemokratisierung politischer Räume zugunsten illiberaler Vorstellungen von Handelszwängen. Gerade passiert eher Letzteres. Das darf beunruhigen. Vor allem, wenn die Untergangsszenarien kein progressives Gegengewicht haben.
Der Untergang ist schließlich Privileg wie Betonklotz am Bein der Rechten. Wenn Linke apokalyptisch werden, schwang bisher immer Vorfreude mit. Wenn die Atombombe fliegt, fliegt für die No-Future-Szene schließlich nicht eine heilige Menschheit, sondern ja auch der dumme Kapitalismus und das Scheiß-Patriarchat in die Luft. Wir sind nicht zu retten: geil. Kein Zufall, dass nicht aus Punk, sondern aus den großäugig besorgten Alternativen Schwesterbewegungen das heutige Querdenken hervorgehen wird.

Deutung des Freiheitsbegriffs

Spätestens mit Corona ist das sakralisierte, dem demokratischen Diskurs enthobene Deuten der Politik deutlich gewichtiger geworden. Querdenken war eine politische Religion, die beständig Worthülsen umkreist, deren Substanz mystisch bleibt – Freiheit, Wahrheit, Liebe. Während die Bewegung irgendwo zwischen Wagenknecht-Querfront und Putschprinz versickerte, stieg vor allem ihr Freiheitsbegriff zu parlamentarischen Ehren auf.
Heute verteidigt der europäische Liberalismus die Freiheit zur Gasheizung oder die Freiheit, Kindern nichts von Dragqueens vorlesen zu lassen. Einschränkungen der Freiheit sind in jener Wahrnehmung nicht Ergebnis politischer Entscheidungen, sondern tiefgreifende identitäre Bedrohung.

Mut zu mehr Demokratie

Unheimlich, dass sich das gleiche Mindset auch auf der progressiven Seite des politischen Spektrums zeigt. Mit mehr Berechtigung. Aber das "Sag die Wahrheit" der Extinction Rebellion bleibt doch als Forderung irgendwo zwischen Metaphysik und Verschwörungsdenke hängen, und dass der Name "Letzte Generation" eine andere Bedeutung als das Aussterben der Menschheit hat, ändert nichts am apokalyptischen Effekt bei Anhänger*innen und Gegner*innen.
Fraglich bleibt, ob man aufseiten derer, die für eine nachhaltig gerechte Welt kämpfen, mit Denkweisen arbeiten sollte, die der politischen Rechten zugehörig sind, die schon immer politische Substanz durch ihre ästhetische Simulation ersetzte.
Verantwortlich mutmaßlich: Die aufmerksamkeitskapitalistische Funktionsweise der sozialen Medien, die sich tief ins Denken eingegraben hat, in der mit Technik der Hypermoderne gerade die archaischste Aussage noch immer die größte Aufmerksamkeit erhält. Es wäre Aufgabe gerade von Bewegungen, die im Selbstverständnis radikal auf demokratische Grundsätze setzen, auf Bürger*innenräte, Diskussionen im Umfeld und auf der Straße, auf die Komplexität und Mühseligkeit von Entscheidungs- und Konsensfindung zu beharren.
Die Herausforderung wäre, auch angesichts der real drohenden Apokalypse nicht der Versuchung des apokalyptischen Denkens nachzugeben, dessen Konsequenz nur Phrase und Autoritarismus sein kann. Einmal mehr wäre hier, auch jenseits jeder Mehrheitsfindung, der politischen Linken der Mut zu mehr Demokratie zu wünschen.

Steffen Greiner ist Autor, Dozent und Journalist. Er war Chefredakteur der Zeitschrift zur Gegenwartskultur "Die Epilog" und Co-Autor des erzählenden Brief-Sachbuchs "Liebe, Körper, Wut & Nazis" (Tropen 2020). Im Februar 2022 erschien seine Erkundung zur Geschichte der spirituellen Querfront in Deutschland zwischen Lebensreform, Weimar und Corona "Die Diktatur der Wahrheit. Eine Zeitreise zu den ersten Querdenkern", ebenfalls bei Tropen.


Portraitaufnahme von Steffen Freiner
© Deutschlandradio/Julia Grüßing
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