Gendern, Anglizismen & Co.

Der Mythos vom natürlichen Sprachwandel

Auf einem Bildschirm ist das Wort "Schüler*innen" zu sehen
Gendergerechte Sprache: Jeder Sprecher einer Sprache sei zugleich auch ein Sprachkritiker - ob bewusst oder unbewusst, meint der Kommentator © picture alliance / dpa / Gregor Bauernfeind
21.07.2023
Der deutsche Rechtschreibrat versagt dem Genderstern weiterhin die offizielle Anerkennung. Der Schriftsteller Alexander Estis nimmt diese Debatte zum Anlass, sich grundsätzliche Gedanken über Sprachwandel und die Diskussion darüber zu machen.
Manche Linguisten, die sich um jeden Preis liberal zeigen und als linguistische Sympathieträger etablieren wollen, belehren jeden Sprachkritiker von der Höhe ihres vermeintlich neutralen Katheders darüber, dass Sprache sich nun einmal verändere und jede Einmischung reaktionär sei.
Wenn jemand "auf Twitter einen mega cringen Screenshot repostet, weil die Follower safe liken und sharen", dann müssen wir das – so die Experten – eben als natürliche Sprachentwicklung hinnehmen. Mit diesem wohlfeilen Scheinargument gebärden sie sich als Apostel des Fortschritts, während sie in Wirklichkeit bloß stilistischer Indifferenz nach dem Munde reden.

In der Redepraxis fällt der Mensch implizit Entscheidungen

Was ihnen offenbar entgeht: Ebenso wie Sprachwandel hat es auch Sprachkritiker immer schon gegeben – und immer schon haben diese ihren Teil zur Entwicklung der Sprache beigetragen. Zahlreiche Wörter, die uns heute mehr als natürlich erscheinen, gehen auf die Eindeutschung durch Sprachkritiker zurück – darunter etwa "Mundart" (statt Dialekt), "Kreislauf" (statt Zirkulation) oder "Zerrbild" (statt Karikatur).
Übrigens ist jeder einfache Sprecher zugleich auch ein Sprachkritiker: Ob bewusst oder unbewusst – in der Redepraxis fällt der Mensch implizit Entscheidungen für oder gegen bestimmte Sprachvarianten. Sprachkritik ist in diesem Sinne ein durchaus regulärer Bestandteil des Prozesses. Ihre Berechtigung kann also keinesfalls mit der Berufung auf natürlichen Sprachwandel zurückgewiesen werden.
Mehr noch, in dem Augenblick, in dem sich ein Linguist gegen Sprachkritik äußert, wird er selbst zum Sprachkritiker, wenn auch unter umgekehrtem Vorzeichen. Dass er dabei die Autorität der Wissenschaftlichkeit für sich beanspruchen will, macht die Sache nur schlimmer, denn damit begeht er den naturalistischen Fehlschluss, alles gut zu finden, weil es eine "natürliche Entwicklung" sei.
Wenn der Linguist sagen wollte, bestimmte Formen des sprachlichen Wandels seien per se ästhetisch unbedenklich, weil natürlich, so müsste er dem Physiker im Gegenzug zugestehen, das Aufschlagen eines Kometen auf die Erde sei ethisch unbedenklich, weil mindestens genauso natürlich.

Medial dauerpräsente Linguistikprofessoren

Den naturalistischen Fehlschluss vermeiden, heißt nun einmal, sich jeder ethischen oder ästhetischen Ableitung enthalten – nicht nur der jeweils missliebigen. In diesem Zusammenhang ist es besonders amüsant zu beobachten, wie medial dauerpräsente Linguistikprofessoren mutwillige Eingriffe in Wortschatz und Grammatik je nach politischer Wetterlage zu kruden Ausgeburten ewiggestriger Sprachdinosaurier oder aber zu reifsten Früchten progressiver Sprachkreativität erklären.
So wird einerseits eine weitere Welle von Anglizismen als völlig natürliche Entwicklung willkommen geheißen. Beim "natürlich gewachsenen" generischen Maskulinum hingegen erscheint das Argument der Natürlichkeit außer Kraft gesetzt; es gilt dann auf einmal, gegen die "menschengemachte Strukturungerechtigkeit der Sprache" zu kämpfen.

Keine vereinfachten Scheinlösungen

Wohlgemerkt steht die Bewertung von Anglizismen oder gendergerechter Sprache hier nicht in Rede. Im Rahmen einer fundierten Sprachkritik bedarf es hierfür einer Auseinandersetzung mit konkreten sprachlichen Realitäten und Kontexten. Eine solche Diskussion aber lassen die meisten medialen Stellungnahmen gerade vermissen, da sie sich in pauschalisierenden und polarisierenden, weil politisierten Ja-Nein-Entscheidungen erschöpfen.
Selbst populäre Linguisten sollten jedoch genügend intellektuelle Redlichkeit aufbringen – um keine vereinfachten Scheinlösungen für fachliche Offenbarungen auszugeben und uns keine Werturteile unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Tatsachenaussagen unterzujubeln.

Alexander Estis ist Schriftsteller und Kolumnist. 1986 in Moskau geboren, studierte er in Hamburg deutsche und lateinische Philologie, anschließend lehrte er an verschiedenen Universitäten in Deutschland sowie in der Schweiz, wo er seit 2016 als freier Autor lebt. Er ist Autor mehrerer Bücher, zuletzt erschien von ihm „Fluchten“ in der Edition Mosaik.

Portrait eines Mannes im Sakko, Hemd und Schlips
© privat
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