Kommentar zu Migrationsdebatte

Menschen dürfen nicht nach Nutzen bewertet werden

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Ein Arzt zieht sich Operationskleidung im OP an.
„Nützlichkeit“ sollte niemals eine Kategorie für Menschen sein, egal ob mit internationaler Biografie oder deutschstämmig, sagt Autorin Gilda Sahebi. © picture alliance / Zoonar / Channel Partners
Ein Kommentar von Gilda Sahebi · 07.03.2024
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Rechtsextreme haben die Vertreibung von Menschen nicht deutscher Herkunft diskutiert. Die Empörung ist groß. Es wird auf den Nutzen von Migranten als Arbeitskräfte verwiesen. Ein gefährliches Argument, findet die Autorin Gilda Sahebi.
Im Januar enthüllte das Investigativ-Netzwerk Correctiv ein Treffen in Potsdam, bei dem die Anwesenden besprachen, wie Millionen von Menschen aus Deutschland ausgewiesen werden können. Solche Pläne sollen Menschen treffen, die ethnisch nicht deutscher Herkunft sind. Diese Vertreibungspläne haben viel Gegenwind erzeugt. Ein Argument gegen die menschenfeindlichen Pläne der Potsdamer Gruppe hörte man besonders oft: Die Zwangsabschiebung von Menschen mit internationaler Biografie könne niemand ernsthaft wollen. Wir brauchen diese Leute doch! So sagte beispielsweise die Chefin der Bundesagentur für Arbeit Andrea Nahles kürzlich im SWR, dass sich der deutsche Arbeitsmarkt die „sogenannte Remigration“ gar nicht leisten könne.
Sie meinte wohl: Wer soll dann Oma pflegen? Oder Bus fahren? Grundsätzlich ist die Intention solcher Aussagen verständlich. Man will zeigen, dass Deutschland eingewanderte Menschen braucht. Das ist faktisch richtig. Betrachtet man das Argument aber auf einer tieferen Ebene, erkennt man: Es ist hoch problematisch und füttert ausgerechnet jene Narrative, die es, so kann man annehmen, eigentlich entkräften soll.
Denn die Zugehörigkeit von Menschen mit internationaler Biografie, die in Deutschland leben, wird dadurch an eine Bedingung geknüpft. Nämlich an den „Nutzen“ dieser Menschen. Damit erzeugt man – unbewusst – eine Hierarchisierung von eingewanderten Menschen. Hier die „guten“, „nützlichen“, dort die „unnützen“ Eingewanderten. Dabei machen sich mehrere Probleme auf. Zum einen: Wer bestimmt, wer „nützlich“ oder „unnützlich“ ist? Ist der migrierte Großvater, der seit Jahrzehnten in Deutschland lebt und seine Enkelkinder über alles liebt, nützlich oder unnützlich? „Braucht“ ihn Deutschland oder nicht? Ist es „okay“, wenn er ausgewiesen wird?

Die gefährliche Argumentation mit dem Nutzen

Außerdem: Das Argument „Wir brauchen Migranten“ trifft auf diskriminierende Narrative über eingewanderte Menschen, die wir unbewusst in uns tragen, weil sie in unserer Gesellschaft allgegenwärtig und normalisiert sind. Unsere Debatten, unsere Sicht auf Menschen mit internationaler Biografie sind von Ausgrenzung und Hierarchisierung geprägt. Selbst wenn sie hier geboren sind, selbst wenn sie seit Generationen in Deutschland leben: „Die“ gehören nie selbstverständlich zu „uns“. Sie müssen beweisen, dass sie „gut“ für die deutsche Gesellschaft sind. Wenn sie dann arbeitslos oder gar kriminell sind, einen Fehler begehen – dann sind sie erst recht „unnützlich“. Deutscher Pass hin oder her. Hier geboren oder nicht.
Hierarchisierung bedeutet auch, dass Menschen zwangsläufig abgewertet werden. Denn wo es „nützliche“ Migrant:innen gibt, muss es auch „unnütze“ geben – und das sind dann die Arbeitslosen, die Geflüchteten, die Armen. In der Logik der kapitalistischen Nützlichkeit bringen diese Menschen nicht nur nichts, sie kosten auch noch. Das schürt rassistische Narrative – und die treffen am Ende alle eingewanderten Menschen. Denn jene, die andere aus rassistischen Gründen angreifen, beleidigen, abwerten, fragen nicht zuerst nach einem Arbeitsvertrag.

Argumentationsmuster der extremen Rechten

Wenn eine Konsequenz aus dem Treffen in Potsdam ist, dass in der öffentlichen Debatte über die Nützlichkeit von Menschen diskutiert wird, dann tragen die Rechtsextremen bereits einen Erfolg davon. Denn damit bestätigt man – wenn auch unbeabsichtigt – die Prämisse ihrer menschenverachtenden Pläne.
„Nützlichkeit“ sollte niemals eine Kategorie für Menschen sein, egal ob mit internationaler Biografie oder deutschstämmig. Die Menschen würden fehlen, nicht, weil dann niemand mehr Oma pflegt. Sie würden fehlen, Freund:innen, Eltern, Kinder, Geliebte, Ehepartner:innen. Darüber sollten wir viel mehr sprechen. Und nicht darüber, wer dann die Busse fährt. 

Gilda Sahebi ist ausgebildete Ärztin und studierte Politikwissenschaftlerin. Ihr journalistisches Volontariat absolvierte sie beim Bayerischen Rundfunk, als freie Journalistin arbeitet sie mit den Schwerpunkten Antisemitismus und Rassismus, Frauenrechte, Naher Osten und Wissenschaft. Sie ist Autorin für die taz und den "Spiegel" und arbeitet unter anderem für die ARD. Ihre Bücher "'Unser Schwert ist Liebe' Die feministische Revolte im Iran" und "Wie wir uns Rassismus beibringen. Eine Analyse deutscher Debatten" erschienen 2023 und 2024 beim S. Fischer Verlag.

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