Kommentar zu Männlichkeitsumfrage
Archaisches Männerbild: Angeblich finden laut einer Umfrage viele Männer Gewalt gegen Frauen immer noch akzeptabel - doch die Ergebnisse sind mit Vorsicht zu genießen. © IMAGO / Pond5 / IMAGO / xWireStockx
Identitätsschützende Denkfehler
04:31 Minuten
Eine Befragung zu Männlichkeit bescheinigt jungen Männern in Deutschland ein "traditionelles Rollenbild". Die Publikation sei nicht nur wissenschaftlich fragwürdig, sie verrate auch etwas über eine tief sitzende Urteilsverzerrung, meint Philipp Hübl.
Erschreckende Zahlen. Angeblich findet ein Drittel aller jungen Männer Gewalt an Frauen akzeptabel und ist sogar selbst schon einmal handgreiflich geworden. Knapp die Hälfte der 18- bis 35-Jährigen ärgere sich zudem über Schwule in der Öffentlichkeit. Das sagt die Untersuchung "Spannungsfeld Männlichkeit". Viele Medien haben darüber berichtet: die Tagesschau, das ZDF, die FAZ und "Die Zeit". Zum Glück haben einige Journalisten und vor allem Sozialwissenschaftler schon bald etwas kritischer hingeschaut.
Für jeden etwas dabei
Der Text ist nämlich gar keine wissenschaftliche Studie, sondern die fragwürdige Umfrage eines beauftragten Marktforschungsinstituts. Im Gegensatz zu einer repräsentativen Zufallsstichprobe haben die Autoren mit einem sogenannten „Access-Panel“ gearbeitet, also bezahlte Antworten ausgewertet, die Leute online abgeben. Viele Metastudien zeigen, dass so eine Selbstselektion der Probanden zu starken Antwortverzerrungen führt. So weichen die Ergebnisse auch deutlich von allem ab, was man bisher zu diesem Thema gemessen hat.
Die berechtigte Kritik an der Untersuchung ist allerdings nicht zu allen durchgedrungen. Der Beitrag wurde von Feministinnen auf Twitter geteilt, die sich bestätigt sahen, wie gewalttätig junge Männer sind. Später beklagt dann der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz in einem Interview, dass „in der Erziehung einiger junger Männer ... viel schief gegangen“ sei. Und der Hanser-Verlag hat die Meldung verwendet, um das Buch des Schriftstellers J.J. Bola anzupreisen, der behauptet, Männlichkeit sei ein Albtraum für Jungs. Offenbar war für alle etwas dabei.
Der „Myside Bias“
Warum haben so wenige kritisch hingeschaut? Das hat nicht nur mit der Mediendynamik zu tun, sondern mit einem Fehlschluss, den der amerikanische Psychologe Keith Stanovich "Myside Bias" nennt. Man könnte auch von einem „identitätsschützenden Denkfehler“ sprechen: Sobald nämlich Informationen zu unserer moralischen Agenda passen, werden wir unkritisch. Inzwischen kennen zwar viele einen ähnlichen Fehlschluss, den "Confirmation Bias", also den Bestätigungsirrtum, der zeigt: Wer schon eine Annahme getroffen hat, sucht eher nach Belegen und nicht aktiv nach einer Widerlegung. Doch der "Myside Bias" erweist sich als hartnäckiger, denn hier helfen Intelligenz und Bildung nicht wie beim Bestätigungsirrtum, den Denkfehler zu vermeiden. Im Gegenteil: Sogenannte „kognitive Eliten“, also Leute, die gut argumentieren und rechnen können und viel zu einem Thema wissen, sind deutlich anfälliger für Identitätsschutz als der Durchschnitt der Bevölkerung. Das klingt paradox, ist aber gut belegt.
So wie Wähler rechts der Mitte die Kriminalität überdramatisieren, neigen Wähler links der Mitte dazu, die Gefahren für vulnerable Gruppen, etwa Frauen, Homosexuelle oder Migranten, zu überschätzen. Auf der einen Seite ist das moralische Hauptthema „Bedrohung durch das Fremde“, auf der anderen steht das Hauptthema „das Leid der Benachteiligten“ – ein Grund, warum sich beide Lager bei der Untersuchung zur Männlichkeit erstaunlich einig sind.
Moral und Kommunikation
Moralische Einstellungen fungieren allerdings nicht nur als Informationsfilter, sondern sie dienen auch der Kommunikation, vor allem auf Twitter, wo man der ganzen Welt sein moralisches Profil präsentiert. So leiten User aller politischen Lager echte Nachrichten und Fake News eher dann auf den sozialen Medien weiter, wenn sie zu ihrer politischen Identität passen, wie eine andere Studie zeigt.
Journalisten und Wissenschaftler gehören zur kognitiven Elite, und sie verorten sich politisch deutlich progressiver als der Durchschnitt, nicht nur in Deutschland, sondern in allen untersuchten westlichen Ländern. Die Mitglieder vieler NGOs verfolgen ebenfalls eine progressive Agenda, bei der sie manchmal in ihrem Eifer übers Ziel hinausschießen oder einfach handwerkliche Fehler machen. Gerade weil viele Journalisten die moralischen Ziele der NGOs teilen, müssen sie also besonders genau hinsehen, bevor sie etwas als Nachricht oder gar als Forschungsergebnis präsentieren. Im Zeitalter digitaler Medien heißt kritisches Denken vor allem, den Mut zu haben, sich mit den eigenen Urteilsverzerrungen zu konfrontieren.