Kommentar

Lesekompetenz ist im KI-Zeitalter wichtiger denn je

04:29 Minuten
Ein Kind liest mit dem Finger auf einer Zeile in einem aufgeschlagenen Buch, während es auf dem Bauch auf einer Couch liegt. (gestellte Szene)
In Deutschland ist es um die Lese- und Schreibfähigkeiten vieler Menschen nicht zum Besten bestellt. © picture alliance / dpa / Annette Riedl
Von Marius Müller |
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Viele Schüler benutzen lieber ChatGPT als selbst zu recherchieren. Das macht anfällig für Desinformation. Wenn uns an einer resilienten Gesellschaft gelegen ist, müssen wir Lesefähigkeit und Medienkompetenz verbessen - auch übers Schulalter hinaus.
Wie viele andere Bibliothekare biete ich in meiner Bibliothek Einführungen in den Umgang mit unseren Beständen an. Wie recherchiert man richtig, wie findet man geeignete Quellen, welche Bücher führen zum Ziel? Diese Grundlagen für das Arbeiten in einer Bibliothek hat unser Berufsstand seit jeher an Generationen von Schülern vermittelt.
Unterhält man sich neuerdings mit Kolleginnen, berichten viele von ihnen von einer beunruhigenden Entwicklung: Schüler zeigen kaum mehr Interesse am Recherchieren. Anstatt mühsam in Online-Katalogen zu suchen und Quellen zu sichten, greifen sie lieber schnell zum Smartphone und fragen ChatGPT.
Ich will den Schülern daraus gar keinen Vorwurf machen. Schließlich kennt man es auch von sich selbst. Statt sein Suchvorhaben in maschinenlesbarer Sprache zu formulieren, die Suchergebnisse zu vergleichen, die wichtigsten Quellen herauszusuchen, um dann die Titel zu bestellen und durchzulesen, fragt man dann doch schnell die KI.

Bequemlichkeit hat einen Preis

ChatGPT hat in Sachen Bedienbarkeit und Schnelligkeit einfach die Nase vorn. Ideen für eine Rede, ein kurzer Input für ein Referat – die KI liefert auf Wunsch, und das innerhalb von Sekunden. Diese Bequemlichkeit hat aber auch einen Preis.
Denn im Gegensatz zu den Beständen einer guten Bibliothek ist ChatGPT nicht immer faktenbasiert. Wenn die KI keine Quelle findet, kann es schon einmal passieren, dass das Programm einem ins Gesicht lügt und kurzerhand eine Quelle erfindet, die es nicht gibt. Das können Bücher sein, die gar nicht geschrieben wurden, oder Studien, die niemals durchgeführt wurden. Von daher ist es eine Illusion, zu glauben, man könnte auf eine Fähigkeit wie analytisches und kritisches Lesen verzichten, weil die KI das für uns übernimmt.
Im Gegenteil: Nicht alles für gegeben hinzunehmen, Aussagen zu hinterfragen, sie auf ihren Wahrheitsgehalt abzuklopfen, ein Urteilsvermögen entwickeln – das sind Schlüsselkompetenzen, die im KI-Zeitalter sogar noch wichtiger werden.

Mangelnde Lesefähigkeit macht anfällig für Fake News

Das macht das Lesen zu einer Kulturtechnik, die alles andere als von gestern ist, sondern die über unsere Zukunft entscheidet. Für eine aufgeklärte und mündige Gesellschaft ist der Erkenntnisgewinn durch das Lesen von hoher Bedeutung. Mangelnde Lesefähigkeit hingegen macht anfällig für Fake News, für Desinformation und Lüge.
Blickt man auf aktuelle  Zahlen zur Lesekompetenz in Deutschland , lässt das für die Zukunft allerdings nicht viel Gutes hoffen. So zeigte die jüngste IGLU-Studie über Kinder im Grundschulalter, dass jeder vierte Viertklässler in Deutschland nicht richtig lesen kann.
Auch der sogenannte PISA-Test für Erwachsene, dessen Ergebnisse im vergangenen Dezember veröffentlicht wurden, bescheinigt den Deutschen große Defizite: Etwa, dass jeder fünfte Erwachsene in Sachen Lesen und Schreiben gerade einmal auf dem Stand eines zehnjährigen Kindes ist. Auffallend ist auch, dass anders als in andere Ländern die über 55-Jährigen besser abschnitten als die jüngeren Altersgruppen.

Grundlagenarbeit an unserer Gesellschaft

Vielleicht, weil sie noch im vordigitalen Zeitalter zur Schule gegangen sind? Einen solchen Zusammenhang sieht jedenfalls OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher. Er warnt: „Das Lesen in der digitalen Welt macht uns mehr zu Konsumenten als zu reflektierenden Menschen.“
Damit sollten wir uns nicht abfinden. Wenn uns für die Zukunft an einer resilienten Gesellschaft gelegen ist, müssen wir unseren Fokus unbedingt auf eine Steigerung dieser Lesefähigkeiten legen, um Lügen und Falschinformationen online wie offline etwas entgegenzusetzen. Die Förderung von Lesen, Schreiben und Medienkompetenz - das ist nicht nur Bildungsarbeit, es ist auch Grundlagenarbeit an unserer Gesellschaft, weit über das Schulalter hinaus.

Marius Müller ist studierter Diplombibliothekar und lebt in Augsburg. Er leitet eine Bibliothek und schreibt auf seinem Blog Buch-Haltung über Literatur der Gegenwart und literarische Themen.

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