Staatskrise in Israel

Der zivile Ungehorsam kann die Demokratie retten

Israelische Demonstranten gegen die Justizreform blockieren eine Straße. Sie halten die israelisch Fahne hoch.
Können die demokratischen Kräfte und der zivile Ungehorsam in Israel verhindern, dass die Demokratie im Land zerbröckelt? © picture alliance / dpa / Ilia Yefimovich
Ein Kommentar von Ofer Waldman · 28.07.2023
Wohin entwickelt sich die Demokratie in Israel? In Richtung eines Staatsstreichs, weil durch die sogenannte Justizreform die Gewaltenteilung aufgehoben wird, befürchtet unser Autor. Wie konnte es zu diesem politischen Amoklauf kommen?
In Israel ist ein Staatsstreich von oben im Gange. Das am 24. Juli verabschiedete Gesetz ist genauso wenig eine „Justizreform“ wie die polnischen und ungarischen Reformen der letzten Jahre es waren. 
Die sogenannte Angemessenheitsklausel wurde abgeschafft. Das heißt, das oberste Gericht kann bestimmte Entscheidungen der Regierung nicht mehr kritisieren und revidieren.

Schutz von Frauen gelockert

Im Klartext: Die Gewaltenteilung, ein essenzieller Teil einer Demokratie, wurde aufgehoben. Im Windschatten dieser sogenannten Reform befindet sich ein ganzer Korb fauler Gesetzte: Der Schutz der Frauen- und LGBTQI-Rechte wird gelockert. Die Befugnisse religiöser Gerichtshöfe werden erweitert. Israel, meinen zynische Beobachter, sei endlich im Nahen Osten angekommen.
Die religiösen und nationalistischen Fanatiker, die das Rückgrat dieser Regierung bilden, drängen weiter. Ungeachtet der Massenproteste, die das Land lahmlegen. Ungeachtet des Zerbröselns der militärischen Wehrkräfte des Landes, von denen immer mehr sagen: Wir sind nicht bereit, einer Diktatur zu dienen. Ungeachtet des Zusammenbrechens der Wirtschaft, der Währung. Ungeachtet der mahnenden Worte der internationalen Gemeinschaft. Ungeachtet der Vermittlungsversuche des Staatspräsidenten Herzog. Ungeachtet der Gefahr eines Bürgerkrieges.

Religion, Korruption, Annexion

Was aber ist der Grund für diesen Amoklauf, für diese beispiellose Selbstzerstörung? In Israel regiert eine Allianz, die von drei Prinzipien geleitet wird: Religion, Korruption, Annexion.
Der Reihe nach: Mit Religion ist die ultraorthodoxe Bevölkerung gemeint, die ihren Sonderstatus gesetzlich verankern will. Dazu gehören sowohl die Befreiung vom Militärdienst als auch massive staatliche Subventionen.
Weiter: Unter Korruption ist das Netz von Vetternwirtschaft um Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu gemeint, der sich wegen Korruption selbst vor Gericht verantworten muss.

Justiz als letztes Bollwerk

Und zuletzt: Annexion. Damit ist der unverhohlene Wunsch der Siedler gemeint, das besetzte palästinensische Westjordanland zu annektieren. Mit den Siedlern in der Regierung ist die undemokratische Realität der Besatzung im Kernland Israel angekommen. Die Flammen, die seit Jahrzehnten im Westjordanland lodern, haben nun Tel Aviv erreicht.
Nach den letzten Wahlen, in denen diese Allianz eine knappe Mehrheit errang, blieb die Justiz das letzte Bollwerk gegen diesen Staatsstreich. Diesem Bollwerk gilt nun das erste Gesetz der sogenannten Reform.
Und danach? Nach polnisch-ungarischem Rezept: Ernennung von politisch genehmen Richtern. Korruption des öffentlichen Dienstes. Vertiefung der Besatzung bis hin zur Annexion.

Bringt ziviler Ungehorsam eine Wende?

Wo also bleibt die Hoffnung? Diese steckt im demokratischen Lager, das Israel trägt – wirtschaftlich, militärisch, kulturell – und das, endlich, aufgewacht ist. Sollte dieses Lager zivilen Ungehorsam ausüben, wird die Regierung handlungsunfähig.
Dazu erkennen immer mehr Menschen, dass die israelische Demokratie lange krank war. Ihre Krankheit ist die Besatzung. Um die Demokratie zu retten, muss die Besatzung beendet werden. Nur so wird die jetzige Krise zur Geburtsstunde eines neuen, zukunftsträchtigen Israels.

Deutschland tut sich schwer mit Kritik

Und ein Nachgedanke: Die größte Gefahr für Israel als jüdisch-demokratischer Staat lauert im eigenen Land. Kein äußerer Feind hätte Israel in so eine existenzielle Gefahr bringen können. In Deutschland tat und tut man sich schwer, die israelische Regierung klar zu kritisieren. Die Kräfte aber, die man damit von Kritik verschont, sind die Kräfte, die zur Selbstzerstörung Israels führen.
Seit Jahren warnen israelische Patrioten vor genau diesen Kräften, auch in Deutschland, werden aber als Antisemitismusförderer und Nestbeschmutzer verjagt. Damit muss jetzt Schluss sein. Jeder, der sich als Freund Israels bezeichnet, sollte dies endlich begreifen, und sich öffentlich und klar auf die Seite der demokratischen Kräfte in Israel stellen.

Ofer Waldmann ist als Autor von Features, Hörspielen und Meinungskolumnen beim Deutschlandfunk Kultur und anderen deutschen Medien tätig. Waldmann hält zudem in Deutschland und Israel Vorträge über politische, gesellschaftliche, kulturelle und historische Fragen aus beiden Ländern. Seine akademische Ausbildung absolvierte er an der Hebräischen Universität Jerusalem und an der Freien Universität Berlin in den Fächern Geschichtswissenschaft und Germanistik.

Mehr zum Thema