Kommentar zu Desinformation

Demokratie ohne Fakten funktioniert nicht

04:51 Minuten
Zu sehen sind Buchstabenwürfel. Sie bilden das englische Wort „Fact“. Die letzten beiden Würfel sind jedoch gekippt und lassen zugleich die Oberseite erkennen. Darauf stehen die Buchstaben K und E. So kann man auch das englische Wort „Fake“ herauslesen.
Das Internet macht es oftmals leicht, an falsche Infos zu gelangen: Der Algorithmus zeigt Suchergebnisse, die zur individuellen Filterblase passen. © imago / Zoonar / Viktor Gladkov
Von Maren Seehawer |
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Menschen sind anfällig dafür, vorzugsweise jene Information wahrzunehmen, die das individuelle Weltbild bekräftigt. Wenn echtes Faktenwissen aber nicht mehr Grundlage ist, sondern Gegner – dann ist die Demokratie in Gefahr.
Am 24. August 2025 wurde in der norwegischen Hauptstadt Oslo die 34-jährige Tamima Nibras Juhar während ihres Nachtdienstes in einer Jugendhilfeeinrichtung ermordet. Ihr Tod erschütterte das Land – und löste gesellschaftliche Reaktionen von historischem Ausmaß aus.

Der Täter, ein 18-jährigen Bewohner der Einrichtung mit Migrationshintergrund aus Europa, nannte seine Tat „politisch motiviert“. Seiner Auffassung nach hatte Tamima als dunkelhäutige Muslimin keinen Platz in jener Gesellschaft, in der sie ihm helfen wollte, Fuß zu fassen. Die Polizei stufte den Mord als Terrorakt ein. Norwegen reagierte mit Trauerfeiern, einer öffentlichen Beerdigung und einer Demonstration auf der Freunde, Familie, der Staatsminister und weitere führende Politiker, Repräsentanten verschiedener Glaubensrichtungen sowie 30.000 Osloer gegen Rassismus und Muslimfeindlichkeit demonstrierten.

Welche Ereignisse sind eine Nachricht wert, welche nicht?

Während der Mord und seine gesellschaftlichen Reaktionen tagelang das zentrale Thema norwegischer Medien waren, blieb er in Deutschland unbeachtet. Das ist einerseits nachvollziehbar. Norwegen ist ein kleines Land am Rande Europas, das selten Schlagzeilen macht. Andererseits berichteten deutsche Medien in der betreffenden Woche sehr wohl über einen Erdrutsch auf einer norwegischen Fernstraße. Die parallel stattfindende Großdemo gegen einen gesellschaftlichen Erdrutsch hingegen fand keine Erwähnung. Hier stellt sich die Frage, welche Ereignisse eine Nachricht wert sind – und welche nicht.
Der gesellschaftliche Erdrutsch, von dem hier die Rede ist, sind die Normalisierung von Hass und Gewalt und Aufstieg populistischer Parteien in ganz Europa. Diese stehen in Zusammenhang mit einer gesellschaftlichen Abwertung von Wissen und seriöser Information.

Problem der Wissensresistenz: Ich glaube das, was mir gefällt

Zunehmend formen Desinformation wie „alternative Fakten“ oder populistische Meinungsmache unsere politischen Überzeugungen. Die schwedische Philosophin Åsa Wikstrøm nennt das „Wissensresistenz“ – die Neigung zu glauben, was ins eigene Weltbild passt, anstatt zu glauben, wofür es gute Gründe gibt. Diese Entwicklungen sehen wir in Deutschland ebenso wie Norwegen, in den USA und in anderen Ländern.

Auch in Norwegen verschieben sich Grenzen des öffentlich Sagbaren und Fakten werden mit Meinung verwechselt. Auch in Norwegen wurde bei der diesjährigen Wahl eine rechtspopulistische Partei zweitstärkste Kraft.

Wir alle sind anfällig dafür, vorzugsweise die Informationen wahrzunehmen, die unser individuelles Weltbild bekräftigen. In der Psychologie spricht man von sogenannten Bekräftigungsfehlern. Das Internet macht es uns dabei leicht: Der Algorithmus zeigt uns Suchergebnisse, die zu unserer individuellen medialen Filterblase passen.
Nach dem Mord an Tamima gab es daher unterschiedliche Medienrealitäten: Während die eine aus nuancierten Analysen bestand, die die Tat in eine Reihe rassistischer Morde stellten, hatten in einer anderen Medienrealität Verschwörungstheorien Vorrang; In dieser Wahrnehmung galt es als „albern“, die Tat als terroristisch zu interpretieren.

Nicht alle können zwischen seriösen und unseriösen Quellen unterscheiden

Diese unterschiedlichen Bewertungen haben damit zu tun, dass mit dem nahezu unbegrenzten Zugang zu Informationen wir nicht automatisch die Fähigkeit besitzen, zwischen seriösen und unseriösen Quellen zu unterscheiden. Es fehlt uns das Wissen darüber, wie Wissen entsteht – und warum wir ihm vertrauen können. Und es fehlt vielfach das Bewusstsein, dass das ein Problem ist.

Demokratie setzt voraus, dass wir richtig informiert sind, um uns fundierte Meinungen bilden zu können. Politische Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten sind in einer Demokratie nicht nur erlaubt, sondern wichtig. Doch wenn Wissen nicht mehr Grundlage ist, sondern Gegner – wenn Information und Desinformation einander als gleichwertig gegenübergestellt werden – dann ist die Demokratie in Gefahr. Dann gewinnen Parteien, die Angst und Desinformation verbreiten. Dann können sich Hass und Fremdenfeindlichkeit so sehr normalisieren, dass politische Morde und das Aufstehen eines Landes gegen Rassismus irgendwann wirklich keinen Nachrichtenwert mehr haben.

Maren Seehawer ist Associate Professor für Internationale Bildung und Entwicklung an der MF Norwegian School of Theology, Religion and Society in Oslo, Norwegen.

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