Bundesjugendspiele

Jürgen Hingsen muss nicht mehr weinen!

Schatten einer Schülerin beim Weitsprung
Nur noch ein Schatten ihrer selbst: Bundesjugendspiele. © imago / photothek / Thomas Imo
Ein Kommentar von Helmut Böttiger · 24.08.2023
Die Bundesjugendspiele dienen nicht mehr als Leistungsvergleich der Kinder, sondern nur noch als Bewegungs-Motivations-Veranstaltung, zumindest in den Grundschulen. Unser Autor sieht darin keine unbedingte Verbesserung des Standorts Deutschland.
Jetzt hat es also auch die Bundesjugendspiele erwischt. Da verbrachte man einmal im Jahr den Vormittag auf dem Sportplatz und wollte herausfinden, wo man im Verhältnis zu den anderen stand. Das war besonders reizvoll, weil es sich um einen Dreikampf handelte.
Man wusste, wo man eher schwächer und wo eher besser war – Laufen, Weitsprung und Weitwurf, das war sehr unterschiedlich und schon ein kleiner Vorschein des Zehnkampfs, bei dem die deutschen Athleten international immer besonders gut waren.
Willi Holdorf 1964 in Tokio! Er brach nach dem abschließenden 1500-Meter-Lauf vollkommen erschöpft zusammen, hatte aber die Goldmedaille gewonnen. Unvergesslich die Kämpfe zwischen Jürgen Hingsen mit dem Briten Daley Thompson! Jedes Mal, obwohl Hingsen gerade wieder einen neuen Weltrekord aufgestellt hatte, unterlag er, wenn es im Wettbewerb wirklich darauf ankam. Er wurde zweimal Vizeeuropameister, einmal Vizeweltmeister und einmal Olympia-Zweiter. Immer Zweiter. Es kostet einiges, das zu verkraften.
Hingsen war ein blonder Hüne, Thomson aber agierte auch mit der Psyche. Bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul hatte Hingsen gleich im 100-Meter-Lauf, der ersten Disziplin, dreimal einen Fehlstart und schied aus. Thompson bezeichnete Hingsen immer gern als „Hollywood-Hingsen“. Das muss man erst mal aushalten.  

Erfolgreiche Petition für Abschaffung

Deswegen werden jetzt auch die Bundesjugendspiele in der gewohnten Form abgeschafft. Alles begann mit dem Twitter-Eintrag einer Mutter aus Konstanz. Er lautete: „Heulender Sohn kommt mit ‚Teilnehmerurkunde‘ von den Bundesjugendspielen heim. Erwäge Petition zur Abschaffung selbiger. Ernsthaft.“
Und tatsächlich: Die Petition hatte Erfolg. Ab dem kommenden Schuljahr geht es nur noch, wie es offiziell heißt, um „die sportliche Betätigung an sich“. In der Ausschreibung für die nächsten Bundesjugendspiele steht, dass sie in den Klassenstufen 1 bis 4 nur noch als „bewegungsorientierter Wettbewerb“ ausgetragen werden, nicht mehr als „leistungsorientierter Wettkampf".
„Endlich“ – meint dazu die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Jetzt muss Jürgen Hingsen nicht mehr weinen. Und Willi Holdorf muss nicht mehr die letzten Reste seiner Kräfte aus sich herauspressen, um im abschließenden Lauf nur 18 Sekunden langsamer zu sein als der Konkurrent und damit insgesamt zu gewinnen.

Der Nutzen von Frustrationstoleranz

Es stellt sich die Frage, ob diese von den unbestrittenen pädagogischen Experten empfohlene neue Form wirklich zielführend ist. Wird jetzt wirklich keiner mehr gehänselt, weil er schlechter gelaufen ist als die anderen? Und nervt es die guten Sportler wirklich nicht, wenn es gar nicht mehr zählt, Erster werden zu wollen?
Das sind wirklich knifflige Fragen. Denn in der Gesellschaft selbst und im Berufsleben herrschen immer noch ganz andere Kriterien. Wenn man da schon in der Schule ein bisschen Frustrationstoleranz eingeübt hat, kann das nur nützen.
Irgendwie kommt einem unwillkürlich in den Sinn, dass die deutsche Fußball-Frauennationalmannschaft soeben bereits in der Vorrunde der Weltmeisterschaft gegen Südkorea ausgeschieden ist. Die Männernationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft 2018 genauso, auch gegen Südkorea. Es wäre interessant zu wissen, was südkoreanische Pädagogen von der bloßen „sportlichen Betätigung an sich“ halten.

Helmut Böttiger ist Literaturkritiker. Neben vielen Publikationen zur Literatur hat er auch einige Fußballbücher veröffentlicht und gehört der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur an.

Der Schriftsteller Helmut Böttiger
© Imago / Gezett
Mehr zum Thema