Kommentar
Bürokratie - das bedeutet Akten am laufenden Meter. Mitarbeiterin eines Finanzamts in der Abteilung Grunderwerbsteuer. © picture alliance / dpa / Marijan Murat
Warum Bürokratieabbau auch gefährlich sein kann
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Auf Bürokratieabbau können sich alle als politisches Ziel einigen. Doch Vorsicht: Nicht immer geht es nur darum, Verwaltungswege effektiver zu gestalten. Hinter der Forderung kann auch das Ziel stecken, den Staat und seine Standards zu schleifen.
Wenn Akteure, die sich sonst in gar nichts einig sind, in einem einzigen Punkt plötzlich alle dasselbe fordern, liegt der Verdacht nahe, dass sie nur dem Wort, aber nicht der Sache nach dasselbe wollen. Zum Beispiel die Bürokratie: Wogegen wendet sich eigentlich, wer ihren Abbau fordert?
Um sich in dieser Frage zu orientieren, ist ein wenig kleinteilige – darf man sagen: bürokratische? – Begriffsarbeit angezeigt. Der Soziologe Max Weber bestimmt Bürokratie in seinem Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ von 1922 als eine bestimmte, und zwar die rationalste Art, Herrschaft zu organisieren: Herrschaft durch Verwaltung.
Damit meint Weber nicht, dass die Verwaltung die Gesetze macht, sondern dass die Herrschaft derjenigen, die die Gesetze machen, durch das Handeln der Verwaltung – durch Ämter und Behörden – planvoll in die Tat umgesetzt wird.
Dieses bürokratische Handeln zeichnet sich durch mehrere Prinzipien aus. Am wichtigsten zu nennen sind: Professionalität, das heißt Arbeitsteilung und Trennung von Amt und Person; Unpersönlichkeit, also die neutrale Beurteilung von Sachverhalten ohne Ansehen der konkret Beteiligten, Berechenbarkeit durch strikte Befolgung vorgeschriebener Verfahren sowie Transparenz durch lückenlose schriftliche Dokumentation jedes Vorgangs.
Aus dieser Charakterisierung lässt sich nicht nur erkennen, dass moderne Demokratien auf Bürokratie angewiesen sind, sondern auch, dass eine gute Bürokratie selbst Grundprinzipien der modernen Demokratie verkörpert. Durch ihr oft kaltherzig erscheinendes Absehen von der Person verwirklicht sie die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Durch ihre oft kleinkariert wirkende strikte Befolgung vorgeschriebener Verfahren sichert sie die Einklagbarkeit eigener Ansprüche. Durch die oft umständliche Dokumentation von Anträgen, Genehmigungen und Berichten stellt sie Transparenz und Verantwortlichkeit her.
Ein System mit prinzipiell sinnvollen Zielen
Warum also Bürokratie überhaupt abbauen? Klar ist: Wie jedes an prinzipiell sinnvollen Zielen orientierte System schwebt auch die Bürokratie ständig in der Gefahr, dass ihre eigene Funktionslogik sich verselbstständigt.
Im schlimmsten Fall beginnt sie dann gegen die eigenen Systemziele zu arbeiten. So zum Beispiel, wenn eine überbordende Berichts- und Dokumentationspflicht im Gesundheitswesen das medizinische Personal an seiner eigentlichen Arbeit hindert und so am Ende womöglich genau die Behandlungsfehler verursacht, die vermieden werden sollten.
Wenn Betroffene die Neujustierung solcher Fehlsteuerungen fordern, ist das „Bürokratieabbau“ im Interesse einer gut funktionierenden Bürokratie selbst. Aber man muss genau hinsehen. Denn manchmal verbirgt sich hinter der gleichlautenden Forderung ein ganz anderes Ziel, nämlich die Stellen derjenigen Professionals abzubauen, die für die Erledigung des sinnvollen Verwaltungshandelns unverzichtbar sind. Solche Leute kosten Geld. Dann entsteht aber ein Teufelskreis: Am Ende kann die Bürokratie ihre Aufgaben gerade wegen des sogenannten Bürokratieabbaus nicht mehr erfüllen, was zu mehr Frustration mit der Bürokratie führt und die Forderung nach noch mehr Bürokratieabbau generiert.
Weg mit den lästigen Sozialstandards
Ist es so weit gekommen, dann schlägt die Stunde derjenigen, die auch „Bürokratieabbau“ sagen, aber noch etwas Drittes damit meinen, nämlich die Schleifung jener politischen Ziele und Standards, zu deren Verwirklichung die Bürokratie tätig ist: Weg mit diesen ganzen lästigen Sozial- und Umweltstandards, den nervigen Pflichten, Rechenschaft abzulegen über dies und das, freie Bahn dem freien Unternehmertun, das noch bereit ist, etwas zu riskieren, und nach den Kosten für die Allgemeinheit im Zweifelsfall hinterher fragt – wenn überhaupt.
Fast macht es den Eindruck, als könnte sich unter dem Stichwort „Bürokratieabbau“ jeder gegen das wenden, was ihm sowieso nicht in den Kram passt. Vielleicht sind deshalb alle dafür?