Ausgeglichener Bundeshaushalt

Wenn ein Paradigma überholt ist

04:43 Minuten
Porträt des Bundesfinanzministers Christian Lindner (FDP): Er steht an seinem Platz auf der Regierungsbank vor einem Mikrofon und spiegelt sich rechts daneben in einer Scheibe.
Das Ziel von Bundesfinanzminister Lindner ist möglichst eine schwarze Null unter den Einnahmen und Ausgaben des Staates. Doch ist das wirklich zukunftstauglich? © picture alliance / Flashpic / Jens Krick
Von Pauline Pieper · 19.03.2023
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70 Milliarden Euro zu viel: Mit dieser Begründung hat Finanzminister Christian Lindner die Vorstellung der Haushaltspläne vertagt. Denn: Der Bundeshaushalt soll möglichst ausgeglichen sein. Das sei nicht länger haltbar, kommentiert Pauline Pieper.
Es gibt mal wieder Streit um den Bundeshaushalt. Die Minister fordern mehr Geld für den Klimaschutz, die Kindergrundsicherung und nicht zuletzt für den Wehretat – Kassenwart Christian Lindner (FDP) kann da nur mit dem Kopf schütteln. Mit Blick auf die „finanziellen Realitäten“ ruft der Bundesfinanzminister zur Disziplin und mahnt: Das Geld ist knapp und ausgegeben werden kann nur, was da ist.
Hier kommt eine bedenkliche Vorstellung zum Ausdruck, nämlich die, dass der Bundeshaushalt wie ein Privathaushalt zu begreifen ist. Was eine Familie als Einkommen verdient, muss der Staat in Form von Steuergeldern einnehmen. Mit diesem Geld gilt es dann so zu wirtschaften, dass sich Einnahmen und Ausgaben die Waage halten – die berühmte schwarze Null. Wie im Privaten sind in dieser Perspektive auch im Staat Schulden möglichst zu vermeiden. Die kommenden Generationen – so ein oft vorgebrachtes Argument – müssen die schlechte Haushaltsführung sonst ausbaden.

Unhinterfragter Konsens in der Wissenschaft

Mit diesem Ideal sparsamen Wirtschaftens steht Finanzminister Lindner bei Weitem nicht allein da. Hier scheint eine so grundlegende Überzeugung am Werke zu sein, dass man von einem "Paradigma" im Kuhnschen Sinne sprechen könnte.
Der Philosoph Thomas Kuhn stellte fest, dass in der Wissenschaft stets gewisse grundlegende Überzeugungen als unhinterfragter Konsens gelten. Sie geben vor, welche Fragen überhaupt sinnvoll gestellt werden können. Als Beispiel für ein solches Paradigma nennt er das geozentrische Weltbild. Von der Antike bis zur frühen Neuzeit war der Glaube unerschütterlich, dass alle Himmelskörper um die Erde kreisen.

Mittels Schleichwegen am Paradigma festhalten

Wenn ein Paradigma unzureichend ist, treten allerdings früher oder später Anomalien auf. So ließen sich bestimmte astronomische Beobachtungen irgendwann nicht mehr richtig erklären. Um am alten Weltbild festzuhalten, werden dann diverse Reparaturmaßnahmen bemüht.
So auch im Fall des Bundeshaushalts: Das Paradigma besagt, dass möglichst keine Schulden gemacht werden sollen. Da aber immer wieder Investitionen notwendig sind, werden vielerlei Auswege gesucht. Mal wird die Schuldenbremse ausgesetzt, mal ein Milliardenpaket für die Bundeswehr aus dem Ärmel geschüttelt, mal ein Klima- und Transformationsfonds eingerichtet. Die Schulden werden gemacht, aber als Ausnahmen oder Sondervermögen kaschiert. Dank dieser Reparaturmaßnahmen – man könnte auch sagen Schleichwege – kann scheinbar am Paradigma festgehalten werden.

Paradigmenwechsel für den Bundeshaushalt?

Kuhn zufolge gerät ein Paradigma in die Krise, wenn sich die Anomalien nicht länger vertuschen lassen. Dann kann sich ein neuer Ansatz etablieren – es kommt zum Paradigmenwechsel. So konnten die einst rätselhaften astronomischen Phänomene besser erklärt werden, sobald man annahm, dass die Himmelskörper um die Sonne kreisen. Das heliozentrische Weltbild setzte sich durch.
Auch mit Blick auf den Bundeshaushalt bietet sich eine alternative Sichtweise an. Anders als ein Privathaushalt muss ein Staat Geld nicht erst einnehmen. Vielmehr finanziert er seine Ausgaben gerade dadurch, dass er Schulden macht. Geld, das in Bildung, in Infrastrukturen, in Armutsbekämpfung und in den Klimaschutz fließt, geht in die Wirtschaft ein, erzeugt Einkommen und schlussendlich auch Steuergeld. Damit können die Schulden dann wiederum beglichen werden.

Schulden als Zukunftsinvestitionen statt als Last

Anstatt Schulden als Last für kommende Generationen zu sehen, kann man sie also auch als Investitionen in die Zukunft betrachten. Denn hohe Staatsschulden sind nicht per se eine Gefahr; Armut, marode Infrastrukturen und der Verlust der planetaren Lebensgrundlagen aber in jedem Fall.
Es ist nicht leicht, ein Paradigma aufzugeben. Einfacher ist es, die Augen vor Anomalien zu verschließen und andere Ansätze als Luftschlösser abzutun. Aber es empfiehlt sich, die eigenen Überzeugungen hin und wieder mit der Realität abzugleichen. Denn sonst ist man vielleicht irgendwann der Letzte, der noch glaubt, dass die Sonne um die Erde kreist.
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