Meinung

Deutschland braucht eine Tech-Alphabetisierung

04:41 Minuten
Das Amazon Logistikzentrum in Rheinberg in Nordrhein-Westfalen ist einer der größten Standorte des US-Konzerns in Europa
Im Amazon Logistikzentrum in Rheinberg in Nordrhein-Westfalen werden inzwischen auch Waren für Katastrophenfälle gelagert, die von dort verteilt werden sollen. © picture alliance / imageBROKER / Stefan Ziese
Ein Einwurf von Maja-Lee Voigt |
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Amazon liefert nicht nur Waren. Der Onlinehändler stellt auch immer mehr Infrastruktur bereit, die ein funktionierendes Gemeinwesen braucht, wie etwa Rechenzentren oder Notfall-Lagerhäuser. Das ist sehr problematisch.
„Alexa, wie stellt sich Amazon die Zukunft vor?“ Das ist wahrscheinlich keine Frage, die Amazons Smart-Speaker und beliebteste digitale Mitbewohnerin in deutschen Haushalten oft zu hören bekommt. Warum auch, ist Amazon nicht einfach dieses virtuelle Warenhaus mit 24-Stunden-Lieferzeit und Videodienst?
Weit gefehlt. Oft unsichtbar sind Techmonopole wie Amazon längst omnipräsent in unserem urbanen Alltag geworden, online wie offline. Der „Anbieter für alles“ dominiert nicht nur unser Zuhause und unsere Straßen mit seinen lächelnden Liefervans; etwa 30 Prozent unseres weltweiten Internets basiert mittlerweile auf der technischen Infrastruktur der Unternehmenstochter AWS, den „Amazon Web Services“. Dazu gehören auch das Sammeln und Auswerten von großen Datenmengen für Unternehmen und Behörden.

Im wohlkuratierten Bann der Bequemlichkeit

Dass die Profite des zwei Billionen Dollar Marktwert schweren Unternehmens auf dem wortwörtlichen Rücken schlecht bezahlter Arbeitender in Amazons Logistik- und Lieferinfrastruktur ausgetragen werden, ist mittlerweile bekannt; nicht zuletzt durch den Einsatz von Betriebsrät*innen, Gewerkschaften und Aktivist*innen, die immer wieder die Arbeitsbedingungen in Amazons Lieferketten kritisieren.
Was im wohlkuratierten Bann der Bequemlichkeit von Amazons Ökosystem für die Endkund*innen aber unsichtbar bleibt, ist, dass das Unternehmen dabei mehr und mehr öffentliche Infrastrukturen übernimmt: In letzter Zeit ging Amazon zunehmend Private-Public-Partnerships mit Kommunen, Städten und Ländern ein, um staatliche Vorsorgeangebote zu (teil-)privatisieren. Damit bekommt das Unternehmen Zugriff auf Daten und Wissen und somit die Möglichkeit, auch Politiken, Räume und Zukünfte nach ihren eigenen profitablen Vorstellungen mitzugestalten.

Katastrophenschutz und Rechenzentren

Anfang dieses Jahres, beispielsweise, eröffnete Amazon seinen ersten „Disaster Relief Hub“ in Rheinberg, Nordrhein-Westfalen. Als Katastrophenstützpunkt werden hier in den Lagerhallen des Konzerns Hilfsgüter für lokale und nationale Notstände verwahrt. Nur wenige Monate später, im Mai 2024, verkündete das Unternehmen in Kooperation mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, knapp acht Milliarden Euro in neue AWS-Rechenzentren in der Region Brandenburg zu investieren. In unmittelbarer Nähe der Hauptstadt und Regierungszentren in Berlin sollen hier Server für Amazons künftige „European Sovereign Cloud“ bereitgestellt werden, die Deutschlands strenge Daten-Souveränitätsanforderungen erfüllt.
Dass Regierungen sich bereitwillig beim Aufbau öffentlicher Infrastrukturen in die Abhängigkeit von Privatunternehmen begeben, ist problematisch. Denn wer über die Funktionsweise dieser Technologien entscheidet, bleibt der Öffentlichkeit verborgen.

Von der Open-Source-Community lernen

Dabei ist es wichtig zu wissen, wer diese Infrastrukturen entwickelt, wen sie repräsentieren und wer über ihre Planung und Strategie Bescheid weiß. Statt solcher patentierten Dienstleistungen brauchen wir in Deutschland eine Tech-Alphabetisierung von der Schule, über die Politik, bis hin zur Verwaltung. Dabei können wir von einer aktiven, großen und kritischen Open-Source-Community lernen, wie sich Technologien auch kollektiv und dezentral umsetzen lassen. Würde Amazon mehr Steuern zahlen, wie in einer EU-Richtlinie letztes Jahr beschlossen, wäre das für den öffentlichen Sektor vielleicht auch besser finanzierbar.
Damit die Zukunft gerechter, diverser und fürsorglicher wird, müssen die öffentliche Hand und ihre Wähler*innen die Hoheit darüber behalten, wie und mit welchen Intentionen Algorithmen und Architekturen gestaltet werden – sodass möglichst alle an öffentlichen Infrastrukturen teilhaben können.
Menschen, denen das gefällt, könnte auch eine stärkere politische Regulierung von Amazon & Co. gefallen.

Maja-Lee Voigt (sie/ihr) ist Stadtforscherin und Mitbegründerin des interdisziplinären Kollektivs Akteurinnen für urbanen Ungehorsam in Hamburg. Derzeit forscht sie im Projekt „Automating the Logistical City“ an der Leuphana Universität Lüneburg zu Amazons Bits, Bytes und Boxen. Ansonsten widmet sie sich Fragen zum Widerstand gegen algorithmische Architekturen der Unterdrückung und setzt sich akademisch-aktivistisch für gerechtere urbane Zukünfte ein.

Maja-Lee Voigt
© Hanna Hartmann
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