Hallo Jannik. Ich bin Volker und habe dich in den ersten Nächten betreut. Falls du meinst oder das Gefühl hattest, dir wäre in der vergangenen Nacht etwas kühl gewesen. Bestimmt ist das wohl so! Ich habe mit kalten Tüchern deine Körpertemperatur von 38 sechs auf 37 Grad runtergekühlt. Alles Gute weiterhin.
Nach dem Koma
Nachrichten über die Stunden im künstlichen Schlaf: Ein Intensivtagebuch kann ein wichiges therapeutisches Instrument für Komapatienten sein. © Unsplash / Hello Revival
Mit einem Tagebuch zurück ins Leben finden
12:42 Minuten
Wer aus dem Koma erwacht, kann sich an Tage, Wochen seines Lebens nicht erinnern. Das weckt Ängste. Ein Tagebuch, in dem Verwandte, Pflegende, Freundinnen und Freunde von der Zeit berichten, kann den Patienten bei der Rückkehr in den Alltag helfen.
5. Juli 2015: In Hagen am Teutoburger Wald haben sich ein paar Fußballfans auf einer kleinen Tribüne versammelt. Heute spielt der Hagener SV gegen den SC Lüstringen. Auf dem Feld: Jannik Kuzma – 19 Jahre, groß, sportlich. Er hat sich als Fußballer in der niedersächsischen Kleinstadt bereits einen Namen gemacht.
Jannik stürmt über das Mittelfeld, das Publikum applaudiert – dann: ein Angriff, wie er jedes Wochenende tausendfach auf den Fußballplätzen passiert, aber diesmal mit einem schlimmen Ausgang. „Da kam nach einem Spielzug meiner Mannschaft ein langer Ball nach vorne. Ich bin diesen Ball hinterhergerannt“, erinnert er sich. „Der gegnerische Torhüter hat sich gedacht, er ist schneller am Ball – ist aus seinem 16-Meter-Raum rausgelaufen. Da sind wir mit den Köpfen aneinandergeprallt.“
In einem Krankenhaus in Osnabrück: Janniks Freundin Larissa erinnert sich an damals. „Die Tür ging auf von dieser Notaufnahme“, erzählt sie. „Mein Papa sah Jannik nur von weitem und nahm mich in Arm, drehte mich weg, und ich hatte Jannik dann auch gar nicht gesehen.“ Larissa und ihr Vater sind die ersten, die auf der Intensivstation eintreffen. Eine Bekannte hatte Larissa noch am Unglücksort angerufen und ihr von dem Unfall erzählt. – Seit etwas mehr als sechs Monaten sind Larissa und Jannik ein Paar. Larissa ist gerade mit dem Abi fertig. Jetzt bangt sie um das Leben ihres Freundes.
Jannik Kuzma liegt vier Wochen lang im künstlichen Koma: Dauer-EKG, Beatmungsgeräte, eine Sonde im Kopf. Dann wacht er auf, ist aber längst noch nicht wieder bei vollem Bewusstsein. Die Gerüche, der Sonnenschein am Fenster – ob das alles genau so oder vielleicht auch ganz anders passiert ist, das weiß Jannik nicht. Die Wochen im Koma aber, und auch das langsame Aufwachen danach sind für ihn ein Tappen im Dunkeln, durchzogen von Erinnerungsfetzen. „Ich finde es ganz, ganz schlimm nicht zu wissen, was da passiert ist“, sagt Jannik. „Was wurde mit mir gemacht? Wie habe ich mich vielleicht auch gegeben?“
Das Tagebuch als Erinnerungsersatz
Was Jannik erst Tage nach seinem Aufwachen bemerkt: Auf dem Tisch neben ihm liegt ein kleines Buch – ein sogenanntes Intensivtagebuch, wie er später noch erfährt. Die persönlichen Einträge, die seine Freundin Larissa, seine Familie aber auch Ärzte und Pflegende darin hinterlassen haben, werden für ihn in den kommenden Wochen und Monaten noch eine wichtige Rolle spielen.
Auf den Intensivstationen in der Uniklinik in Jena geht es oft hektisch zu: die meisten Patienten werden eingeliefert und nach wenigen Tagen weiterverlegt. Ärzt*innen und Pflegende arbeiten ständig an der Belastungsgrenze. Und trotzdem versucht sich das Personal hier Zeit fürs Intensivtagebuchschreiben zu nehmen.
Verstörende Erfahrungen
„Für so einen Eintrag von drei Seiten brauche ich nicht mehr als zehn Minuten, und es sind ja auch Einträge, die kürzer sind, sodass man auch mit fünf Minuten gut hinkommen kann“, sagt die Psychologin Theresa Deffner. In Jena kümmert sie sich neben den Pflegenden um die Einträge im Intensivtagebuch. Sie betreut Patienten und Angehörige während und zum Teil auch nach ihrem Aufenthalt auf der Intensivstation. Auch das ist in Deutschland eher die Ausnahme.
Das Tagebuch ist für die Psychologin ein wichtiges therapeutisches Instrument, das sie vor allem in der Nachbehandlung von Komapatienten einsetzt. Denn dadurch könnten diese überhaupt erst einmal eine chronologische Abfolge der Ereignisse nachlesen. „Dass sie von der Zeit, die sie kaum oder gar nicht in Erinnerung haben, erst einmal überhaupt einen Inhalt haben. Was ist da passiert? – Und vor allen Dingen, dass man auch versteht, warum es einem noch nicht so geht wie vorher. Das ist ja in der Regel der Fall. Wenn die Patienten wach werden, finden sie sich in einem schlechteren Zustand wieder als vor der Erkrankung“
Angst vor dem Ungewissen
Was Koma-Patienten tatsächlich im Zustand tiefer Bewusstlosigkeit mitbekommen oder eben auch nicht – das weiß die Medizin nicht. Schließlich können die Patienten selbst – wenn überhaupt – immer erst nach dem Aufwachen Rückmeldung über ihre Erfahrungen während des Komas geben. Häufig würden die Patienten von ängstigende Erfahrungen berichten. „Wie beispielsweise irgendwo gefangen gewesen zu sein, in irgendwelche mehr oder weniger komplexe Geschichten verstrickt gewesen zu sein, die gar nichts mit dem Krankenhausaufenthalt, häufig auch gar nichts mit der Erkrankung zu tun haben.“ Die Patienten seien aber davon überzeugt, dass ihnen dies wirklich passiert sei. „Deswegen kann auch das Tagebuch so eine wertvolle Unterstützung sein, weil dort schwarz auf weiß geschrieben steht, was wirklich passiert ist“, sagt Deffner.
Tagebucheintrag vom 07.07.2015. Lieber Jannik, es war schon einfacher, als Sonntagabend bei dir zu sein, aber ist immer noch unglaublich schwer. Du in einem Bett an so vielen Maschinen angeschlossen. Eigentlich bist du doch die Maschine, die nicht aufzuhalten ist. Deine Wunde über dem linken Auge sah schon besser aus. Auch sonst sagen alle, dass alles stabil wäre. Am Montagmorgen wolltest du aber einfach nicht wach werden. Und ich habe schreckliche Angst um dich. Mittlerweile war es 4:30 und wir mussten gehen. Ich habe dir noch einen Kuss gegeben und dir völlig weinerlich gesagt, dass du kämpfen sollst und morgen wieder wach werden sollst. Dein Bruder Hendrik
Sieben Jahre später, nach Unfall, Krankenhaus und Koma – zurück in Hagen am Teutoburger Wald. Jannik geht die Treppe hoch zu seinem Arbeitszimmer und zieht – dort angekommen – zielsicher eines von mehreren Notiztagebüchern aus dem Regal. „Dieser Eintrag. Der sagt viel mehr als das, was man so von Geschwistern glaubt. Ja, es ist einfach – für mich ist er ein Meilenstein in diesem Buch.“
Jannik blättert weiter durch die Seiten seines Intensivtagebuchs. Er weiß genau, wo alles steht. Das, was seine Familie und Pfleger dort reingeschrieben haben, hat er wieder und wieder gelesen, tut er auch heute noch.
Zum ersten Mal reingeguckt hat er erst drei Monate nach seinem Aufwachen, aus Angst vor dem Ungewissen, aber auch, weil er in den ersten Wochen nach dem Koma kognitiv dazu noch gar nicht in der Lage war. Seine Freundin Larissa hat ihm bei den ersten Schritten geholfen. Aber auch ihr ist das nicht leichtgefallen. Einen Anfang zu finden, über die Zeit zu sprechen, sei wahnsinnig schwer. „Ich kann mich ganz genau daran erinnern, dass er so gelacht und gesagt hat: Quatsch, das kann doch gar nicht sein. Wo es für ihn, glaube ich, auch eher so ein Schockmoment war, weil er sich ja nicht erinnern konnte.“
Bei Larissa hingegen sitzen die Erinnerungen bis heute tief. „Man hat bei Jannik am Bett gesessen und wusste gar nicht, was man machen soll. Man brauchte eine Aufgabe. Dann gab es dieses Tagebuch. Ich habe ins Buch geguckt und gelesen, was ist in den Stunden passiert, wo ich nicht da war. Und die zweite Aufgabe war dann, ich nehme mir den Stift und schreibe, was nehme ich gerade wahr? Wie fühle ich mich? Man hat irgendwie das Gefühl gehabt, man kann was für Yannick tun.“
Ein Video von vor sieben Jahren. Ein junger blonder Mann guckt in die Kamera – oder vielleicht auch nur in Richtung der Kamera, das lässt sich schwer sagen. Jannik sitzt in einem Rollstuhl. Es ist seine letzte Wochen im Krankenhaus.
Im Intensivtagebuch von Janniks Mutter gibt es viele solcher Fotos: Jannik nach der OP, noch schwer lädiert, Jannik schlafend – mit Teddy unterm Arm. Und: Janniks erste Gehversuche. Nach dem vierwöchigen Koma musste er vieles, was für ihn vorher so selbstverständlich war, wieder neu erlernen: Laufen, Sprechen, Schreiben. Der schwere Unfall hat Spuren hinterlassen, bis heute.
„Das Foto finde ich einfach so markant. Ich reiß meine Augen auf, als wenn ich etwas Schreckliches an der Decke sehe“, sagt Jannik beim Betrachten des Bildes. „Aber ich kann es nicht sagen, was da war. Und man sieht es hier leider Gottes schon, dass mein linkes Auge da schon abweicht, und dass man das eben sieht, macht mir auch heute noch deutlich zu schaffen.“
Was Jannik erst viel später realisiert: Sein langjähriger Berufswunsch – Polizist zu werden – ist damit geplatzt. Aber auch, dass es ihm insgesamt an Ausdauer und an Merkfähigkeit fehlt, macht ihm schwer zu schaffen. Er und Larissa holen sich professionelle Hilfe.
Symptome auch noch Jahre danach
„Wir sprechen hier vom sogenannten Post Intensiv Care Syndrom“, sagt Peter Nydahl – Krankenpfleger und Pflegewissenschaftler aus Kiel. Er und sein Kollege Dirk Knück haben das ursprünglich in Skandinavien entwickelte Intensivtagebuchkonzept mit nach Deutschland gebracht. „Es beschreibt letztendlich ein Symptomkomplex von körperlichen und kognitiven Einschränkungen wie Muskelschwäche, Atemnot, Konzentrationsstörungen und auch psychologische Faktoren wie Angst, Depression und Posttraumatische Belastungsstörung.“ Viele Patienten, die länger als 48 Stunden auf der Intensivstation geblieben sind, könnten von einem bis mehreren Symptomen betroffen sein – und das auch noch bis zu acht Jahre nach dem Intensivaufenthalt.
Ein stiller Begleiter im Alltag
Intensivtagebücher sind – wie auch bei Jannik – einer von mehreren Bausteinen in der Behandlung von Folgeschäden, die im Anschluss an ein Koma auftreten können, für Patienten genauso wie für Angehörige. Sie ersetzen in der Regel keine Therapie, zeigen aber dennoch nachweislich Wirkung, so Nydahl. „Die Studienlage ist für Patientinnen ganz gut, was Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen angeht. Es scheint den meisten, aber nicht allen zu helfen.“ Bei den Angehörigen sehe die letzte Metaanalyse dagegen nicht eindeutig aus. „Aber so etwas wie Kontakt halten, Lebensqualität, da scheint ein Tagebuch ganz gut zu helfen.“
Für Jannik sind die Intensivtagebücher zu stillen Begleitern in seinem Alltag geworden. Heute arbeitet er als Beamter beim Zoll. Eine Arbeit, die durchaus Parallelen zu seinem Traumberuf Polizist hat, sagt er. In zwei Wochen wollen Larissa und er heiraten. Die Tagebücher seien ein „ein wirklich wichtiger Teil“ in seinem Leben. „Wenn ich Tage habe, wo ich wieder so ins Grübeln komme, wie schlecht es um mich steht, dass ich so viele Sachen nicht mehr machen kann. Dann brauche ich einen Anstoß, wieder umzudenken.“ Dann lese er in dem Buch über die Freude, dass er wieder einen Löffel halten konnte. „Solche Sachen zu lesen, die zeigen ganz deutlich: So schlecht war es. Die mindern meine eigenen Ansprüche ein bisschen und geben mir eher ein Gefühl der Zufriedenheit, wie es jetzt ist.“