Scham und Schuld

Kommentar: Jeder Körper ist ein Klassenkörper

04:23 Minuten
Die Brunnenfigur einer dicken nackten Frau beim Baden.
"Body positivity": Die "dicke Wilhelmine" auf Sylt wird als rund und selbstbewusst dargestellt. © picture alliance / imageBROKER / Michael Weber
Ein Kommentar von Daniela Dröscher · 08.03.2024
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Aller „Body positivity“ zum Trotz sind unsere Körper noch immer von Scham und Schuld umzingelt, meint Daniela Dröscher. Die Herkunft habe einen großen Einfluss darauf, wie Menschen auf ihren Körper schauen und mit ihm umgehen.
Wann beginnt die Geschichte eines Körpers? Mit der Befruchtung eines Eis? Im Uterus, wo der Klang der mütterlichen Stimme den Embryo in Schwingung versetzt?
„Der eigene Körper“, heißt es bei Erich Fromm, sei „das einzige Eigentum, das jeder hat. Er ist sozusagen ein natürliches Eigentum.“ „Natürlich“ ist dieses Eigentum nur bedingt. Ein Körper ist nie einfach nur ein Körper, sondern immer auch ein Ort, an dem sich die Machtverhältnisse einer Gesellschaft artikulieren – die vergangenen und gegenwärtigen.

Geprägt durch eine soziale Grammatik

Die Erfahrung von Armut oder auch nur notorischer Geldmangel schreiben sich tief in unsere Fasern ein. Jeder Körper ist ein Klassenkörper, geprägt durch eine soziale Grammatik. Die Herkunft entscheidet mit darüber, wie und was ich esse, was ich schön finde und was nicht. Darüber, wie streng oder liebevoll ich zu meinem Körper bin. Welche Sexualität ich als legitim empfinde. Wie selbstverständlich ich glaube, krank sein zu dürfen.
All das ist das Produkt einer langen, komplizierten Weitergabe von sozialen Genen und Angewohnheiten, die über Generationen hinweg weitergereicht werden – wie ein teils bewusst, teils unfreiwillig vererbtes Silberbesteck.

Von Scham und Schuld umzingelt

Aller „Body positivity“ zum Trotz sind unsere Körper noch immer von Scham und Schuld umzingelt. Besonders die Körper, die aus diesem Raster des gesunden schönen Körpers herausfallen, etwa, weil sie chronisch krank sind oder als „unansehnlich“ oder schlicht „anders“ gelten. Nicht wenige dieser Bewertungen oder vielmehr Abwertungen haben wir im Elternhaus oder der Schule gelernt. Andere davon reichen noch weiter zurück in die Geschichte.
Die Abwertung mehrgewichtiger Körper etwa hat ihre Wurzeln im Anti-Schwarzen-Rassismus des 18. Jahrhunderts. Die amerikanische Soziologin Sabina Strings zeigt in ihrem Buch „Fearing the Black Body“, wie während der Kolonisierung eine Abgrenzung zu den Körpern schwarzer Frauen gesucht wurde. Schlankheit hatte man in Europa jahrhundertelang als Zeichen von Armut verhöhnt. Mit einem Mal wurde sie zu einem Distinktionsmerkmal in der Konstruktion von „Whiteness“, also Weißsein.
Auch mein Körper ist nicht nur als ein weiblicher, er ist auch als ein weißer Körper und als ein deutscher Körper sozialisiert. Aus meiner Kindheit erinnere ich, wie abfällig man mitunter – wenn auch hinter vorgehaltener Hand – in unserem Dorf über Menschen redete, die ein psychisches oder physisches Gebrechen mit sich herumtrugen. Nach einem anfänglichen Bedauern über das Schicksal gewann stets die Härte die Oberhand. Auch die französische Schriftstellerin Annie Ernaux, die ihr Aufwachsen in der normannischen Provinz der 50er-Jahre schildert, schreibt: „Sie ist kränklich, war nicht nur ein Ausdruck von Mitleid, sondern auch ein Vorwurf. Krank zu sein, war auf diffuse Weise mit einem Makel behaftet, als hätte sich derjenige unachtsam gegenüber dem Schicksal verhalten“.

Der Kult um den gestählten Körper

In der Nachkriegszeit wurden nicht nur Schuld und Scham totgeschwiegen. Auch der Kult um den gestählten Körper, die Obsession mit Vollkorn-Ernährung, FKK und Leibesübungen und die Verurteilung mehrgewichtiger Körper als faul und dekadent, spukte weiter.
Im 21. Jahrhundert glauben immer weniger Menschen an Gott. Die urchristliche Idee, die Krankheit als Ausdruck von Sünde interpretiert, scheint jedoch immer noch virulent. Wer dick ist, ist selbst schuld, wer krank ist, ebenso. Jesus hat gegen die Idee der Sünde gekämpft. Ein Diät-Slogan der 60er-Jahre lautete – „I prayed myself slim. More of Jesus, Less of Me“, „Ich habe mich schlank gebetet. Mehr von Jesus, weniger von mir“. „More of Jesus.“ Das würde genügen.

Daniela Dröscher, Jahrgang 1977, aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, lebt in Berlin. Sie schreibt Prosa, Essays und Theatertexte. Studium der Germanistik, Philosophie und Anglistik in Trier und London, Promotion im Fach Medienwissenschaft an der Universität Potsdam sowie ein Diplom in „Szenischem Schreiben“ an der Universität Graz. Dröscher wurde u. a. mit dem Anna-Seghers-Preis und dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien ihr Roman „Lügen über meine Mutter“ (2022) bei Kiepenheuer & Witsch.

Ein Porträt der Autorin Daniela Dröscher.
© Linda Rosa Saal
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