Kluft zwischen Arm und Reich

Der Wunsch nach einem gerechteren Deutschland

Ein kleiner Junge in einem großen Spielzeugauto in einem Garten. Daneben ein anderer kleiner Junge mit einem kleinen Spielzeugauto auf einer Betonbank.
In Deutschland herrscht eine große Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit. © EyeEm/timkirman / Ox akbal
Von Ralph Gerstenberg · 04.02.2019
Wir können uns in Deutschland über das Gesundheitswesen, Mütterrente oder den Rechtsanspruch auf Kitabetreuung freuen. Sind wir einer gerechteren Gesellschaft also näher denn je? Oder stimmt das Gegenteil: Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst und wächst?
"Es gibt keine Gerechtigkeit, solange auch nur einem einzelnen Menschen in unserer Gesellschaft Unrecht widerfährt und wir nicht alles tun, den Versuch zu unternehmen, dieses Unrecht zu beseitigen. Solange wir das nicht tun, gibt es keine Gerechtigkeit. Aber ich will, dass es Gerechtigkeit in unserem Lande gibt."
"Zeit für mehr Gerechtigkeit" – mit diesem Slogan startete Martin Schulz seinen Wahlkampf bei der Bundestagswahl 2017. Gut anderthalb Jahre später ist Angela Merkel immer noch Kanzlerin, und die SPD schwankt laut Umfragen zwischen 14 und 15 Prozent. Dabei sei der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit sogar größer als der nach individueller Freiheit, beteuert etwa der Leiter des Marktforschungsunternehmens Ipsos, Robert Grimm, nach Auswertung einer Studie, die zum 200. Geburtstag von Karl Marx durchgeführt wurde.
"Die Kritik an den Auswüchsen der neoliberalen Marktwirtschaft ist groß. Unsere Daten belegen, dass es in Deutschland eine große Sehnsucht nach mehr sozialer Gerechtigkeit gibt. Das zeigt auch die Debatte, die derzeit über die Agenda-2010-Reformen und den Fortbestand von Hartz IV geführt wird."

Warum konnte Martin Schulz mit seiner Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit dann beim Wähler nicht punkten? Ein Glaubwürdigkeitsproblem, weil seine Partei genau jene Ungerechtigkeit mitzuverantworten hatte, die er nun anprangerte?
"Ich finde es ja nicht den Fehler, in einem Wahlkampf über Gerechtigkeitsfragen zu sprechen. Wenn aber nicht konkret über Gerechtigkeitsdefizite gesprochen wird und über konkrete Ansätze, was man ändern will, sondern der Eindruck entsteht, als wäre das ganze Land in schreiender Ungerechtigkeit, dann fragen sich doch die Leute: Ja, Gott, was haben die denn in den Dekaden gemacht, an denen sie an der Macht waren?"
Der Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, am 15. August 2017 im Willy-Brandt Haus in Berlin
Konnte als Kanzler-Kandidat mit seiner Forderung nach "mehr Gerechtigkeit" nicht überzeugen: Martin Schulz (SPD). © dpa/Wolfgang Kumm

Was ist überhaupt gerecht?

Im Veranstaltungsraum der katholischen Pax-Bank in der Berliner Chausseestraße wird das Publikum mit Handschlag begrüßt. Anlass ist eine Publikation des ehemaligen Generalsekretärs der Caritas Georg Cremer. "Deutschland ist gerechter, als wir meinen" heißt sein Buch, das er hier präsentieren wird. Dafür hat er sich einen prominenten Gast eingeladen, "einen Mann aus dem Maschinenraum der Sozialpolitik", wie Cremer betont: Franz Müntefering.
"Was Gerechtigkeit ist, dazu gibt es bei uns Menschen recht unterschiedliche Vorstellungen. Da geht es ihr so wie der Demokratie. Beides ist in permanenter Veränderung, und deshalb muss man immer wieder neu darüber sprechen."

Und Georg Cremer ergänzt: "Einige Dinge, die uns in der Gerechtigkeitsfrage umtreiben, das ist die eindeutig größere Einkommensungleichheit, die wir im Vergleich zu den 80er-Jahren hatten. Die steigenden Mieten sind durchaus auch ein Armutstreiber in städtischen Ballungsräumen, die die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen nach Bezahlung der Mietausgaben deutlich erhöht haben, gerade für das untere Fünftel. Also da gibt es auch durchaus reale Gründe für Unzufriedenheit in diesem Segment. Wohnraumpolitik ist lange vernachlässigt worden. Und natürlich gibt es auch das Phänomen: der neidvolle Blick nach oben in Gehaltsexzesse."
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Verteidigt die Hartz-IV-Reform bis heute: Franz Müntefering (SPD).© picture alliance / dpa / Erwin Elsner

"Zukunftsangst vergällt die Lebensfreude"

Doch der Sozialstaat, meint Georg Cremer, sei viel besser als sein Ruf, wozu durchaus auch Weichenstellungen der vielgescholtenen Großen Koalition beigetragen hätten. So verfüge Deutschland über ein "Gesundheitswesen mit niedrigen Zugangshürden", Mütterrente und Rente mit 63, einen Rechtsanspruch auf Kitabetreuung, ein auf Selbstbestimmung und Teilhabe ausgerichtetes Behindertenrecht, Baukindergeld zur Wohneigentumsförderung und, und, und. Der vielbeklagte und -kritisierte neoliberale Sozialabbau, so Cremers Fazit, habe schlichtweg nicht stattgefunden. Den meisten Menschen gehe es gut, und die Ängste vieler vor der Zukunft beruhten auf "verzerrten Wahrnehmungen" der Gegenwart.
Kinder tanzen während einer Musikstunde durch eine Kindertagesstätte.
Kita-Anspruch und Mütterrente: Ist unser Sozialstaat besser denn je?© dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte
Zitat: "Zukunftsangst vergällt die Lebensfreude. Aber nicht nur das. Verzerrte Wahrnehmungen erschweren eine zukunftsgewandte Politik. Also sollten wir übertriebenen Ängsten entgegentreten. Das Übermaß an pauschaler Empörung ist zudem auch gefährlich. Wenn das, was der Sozialstaat leistet, schlechtgeredet wird, wenn positive reformerische Schritte als Klein-Klein diskreditiert oder schlicht nicht wahrgenommen werden, ist dies ein Problem in der Auseinandersetzung mit populistischen Kräften. Zu ihrer Mobilisierungsstrategie gehört die Verleumdung, die Politik würde sich um 'die Belange des Volkes' nicht kümmern."
"Der Impuls, dieses Buch zu schreiben", sagt Georg Cremer, "war die Debatte nach dem Wahlerfolg der AfD in der Bundestagswahl, wo ja eine Debatte geführt wurde, das sei nun die Quittung der Großen Koalition für die soziale Kälte und das sozialpolitische Versagen. Das passt natürlich einerseits sehr gut in diese Stimmungslage des ständigen Niedergangs und zu einer Gerechtigkeitsdebatte, die im Nebulösen verbleibt."

"Deutschland ist ungerechter, als alle denken"

Als eine Art Panikmacher, der mit seinem Gerede von einem "Suppenküchensozialstaat" und einer "Amerikanisierung des Arbeitsmarktes" den "Niedergangsdiskurs" befeuere, hat der Ex-Caritas-Chef Georg Cremer den Armutsforscher und chancenlosen Präsidentschaftskandidaten der Linken von 2017, Christoph Butterwegge, ausgemacht. Butterwegge ist nicht nur nicht der Meinung, Deutschland sei gerechter, als viele meinen, sondern sogar fest davon überzeugt, Deutschland sei weitaus ungerechter, als gemeinhin angenommen.
"Von 100 Menschen, denen eigentlich die Grundsicherung im Alter zustünde, weil ihre Rente so klein ist, dass sie davon nicht leben können, geht nur ein Drittel, also 33, zum Amt und beantragen diese Grundsicherung. Zwei Drittel tun das nicht. Und bei Hartz 4, sagt man, sind es ungefähr die Hälfte derjenigen, die anspruchberechtigt wären, also aufstockend Hartz 4 in Anspruch zu nehmen, weil ihr Lohn so gering ist, dass sie davon nicht leben können oder kaum über die Runden kommen. Auch da ist eine ganz große Dunkelziffer. Das heißt, eigentlich ist die Kluft zwischen Arm und Reich viel tiefer. Es ist falsch zu glauben, Deutschland sei gerechter, als wir glauben. Nein, Deutschland ist ungerechter in Wirklichkeit, als alle denken."

Nach einer Statistik des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, DIW, von 2018 ist das Vermögen in Deutschland stärker konzentriert als zuvor angenommen. Denn auch hier gibt es einen blinden Fleck. Das Vermögen der Superreichen wird systematisch unterschätzt, weil die Erhebungen größtenteils auf freiwilligen Angaben basieren. Laut DIW, das deshalb erstmals auch Schätzungen aus der Reichenliste des "Manager Magazin" bei seinen Berechnungen mit einbezogen hat, besitzen die 45 reichsten Haushalte in etwa so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Die reichsten fünf Prozent verfügen über mehr als die Hälfte, ein Prozent besitzt über ein Drittel des Gesamtvermögens in Deutschland.
Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler und Armutsforscher, steht vor einer mit Graffitis besprühten Mauer
Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, meint Armutsforscher Christoph Butterwegge.© imago stock&people

Umverteilung zwischen Arm und Reich

"Man kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt nur sichern, wenn man die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich eindämmt", betont Christoph Butterwegge. "Da braucht man dann die Wiedererhebung der Vermögenssteuer. Das wäre sicher ein ganz wichtiger Schritt. Man müsste aber auch den Spitzensteuersatz erhöhen. Der ist 42 Prozent und für ganz wenige Hyperreiche 45 Prozent. Unter Helmut Kohl betrug er noch 53 Prozent."
Der Einfluss dieser "Hyperreichen", wie Christoph Butterwegge sie nennt, auf die Politik sei der Grund, warum Vermögen und hohe Einkommen hierzulande äußerst moderat besteuert würden. So verzichte der Staat auf sehr viel Geld, meint der Armutsforscher, Geld, das der Infrastruktur, dem Bildungswesen und sozial Benachteiligten zugute käme.
"Auch die Unternehmenssteuern müssten steigen. Warum die Körperschaftssteuer der großen Kapitalgesellschaften bei 15 Prozent liegt, bei Kohl waren es entweder 30 oder 45 Prozent, je nachdem, ob ein Konzern die Gewinne ausgeschüttet oder im Unternehmen behalten hat, das vermag ich gar nicht einzusehen. Da bin ich der Meinung, dass auch die großen Unternehmen, die riesige Gewinne machen, dass auf diese Gewinne entsprechend höhere Steuern erhoben werden müssten, auch auf Kapitalerträge. Wenn ich Unternehmensanteile beispielsweise erbe und daraus jährlich Dividendenzahlungen erfolgen, dann ist das eigentlich keine Leistung, die der Betreffende erbringt. Und warum soll der auf dieses leistungslose Einkommen nicht höhere Steuern zahlen als 25 Prozent wie gegenwärtig. Das vermag niemand einzusehen."

Firmeninsolvenz als Bedrohungsszenario

Forderungen nach einer Umverteilung von oben nach unten werden von Seiten der Wirtschaft stets mit dem Argument abgelehnt, dass dadurch die Vermögen deutscher Familienunternehmen unzumutbar belastet und Arbeitsplätze gefährdet würden. So heißt es in einer Broschüre mit dem Titel "Gerechtigkeit 4.0 – so gerecht ist Deutschland" des Bundes der Arbeitgeber:
"Das Vermögen steckt in Anlagen, Maschinen, im technischen Wissen und im Know-how der Unternehmen und sichert so Beschäftigung. Wird dieses Vermögen besteuert, so erwächst zusammen mit der ohnehin im internationalen Vergleich hohen Ertragsbesteuerung eine massive Steuerlast. In wirtschaftlich schlechten Zeiten greift eine Vermögensteuer zudem unmittelbar die Substanz der Unternehmen an und wirkt krisenverschärfend. Arbeitsplätze und Einkommen der Beschäftigten werden so aufs Spiel gesetzt. Damit bewirkt eine Vermögensteuer das genaue Gegenteil von mehr Gerechtigkeit und Teilhabe."
"Wenn man bei der Erbschaftssteuer die ganz großen Vermögen besteuert, die ja leistungslos übertragen werden, an Kinder oder Ehepartner, wenn man das tut, gehen dadurch keine Arbeitsplätze verloren", sagt Christoph Butterwegge. "Es mag der Fall sein bei einem Kleinstunternehmer, aber es soll ja auch große Freibeträge geben. Und bei einem großen Konzern, der aus 700 Firmen bestehen kann, da weiß der Erbe überhaupt gar nicht, welche Firmen er da erbt, und erst recht wird kaum eine der Firmen Insolvenz anmelden müssen, weil der Erbe jetzt Erbschaftssteuer zahlt. Und wenn das der Fall wäre, dann könnte das Finanzamt ja auch Eigentumsanteile dieser Firmen übertragen auf den Staat, der Staat könnte als stiller Teilhaber eintreten. Also das ist alles vorgeschoben."

Anstieg von Leiharbeit und Billigjobs

Auch bei der SPD mehren sich inzwischen die Stimmen für mehr Steuergerechtigkeit. So bemerkte beispielsweise der NRW-Fraktionsvorsitzende Thomas Kutschaty, er sehe nicht ein, warum Deutschland nur 2,9 Prozent seiner Steuereinnahmen aus Vermögenssteuern beziehe. In anderen Ländern seien es zehn Prozent. Und der Mann aus dem Maschinenraum des Sozialstaates bemerkt angesichts großer Finanzierungslücken im Rentensystem:
"Deshalb sind für mich Dinge wie Vermögenssteuer und Erbschaftssteuer oder Finanztransaktionssteuer keine Fremdworte, sondern das ist ein Ansatz, den man ganz nüchtern machen muss."
Demonstration des DGB zum 1. Mai 2017 gegen Zeitarbeit.
Demonstration gegen Leiharbeit und Billiglöhne: Der Niedriglohnsektor ist in Deutschland nach der Hartz-IV-Reform gewachsen.© imago
Dabei wurde unter der rot-grünen Bundesregierung, der Franz Müntefering angehörte, der Spitzensteuersatz zuletzt um elf Prozent und die Körperschaftssteuer auf 25 Prozent gesenkt. Diese Entlastung der Besserverdienenden, Unternehmen und Kapitalgesellschaften lief parallel zur arbeits- und sozialpolitischen Reform Agenda 2010, die mittlerweile selbst in SPD-Kreisen viele Kritiker hat. Hartz IV steht für einen Anstieg von Leiharbeit, Billigjobs und eine Verfestigung prekärer Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Der heute 79-jährige Müntefering verteidigt noch immer die damalige Reform.
"Ausgangspunkt war eine große Zahl von erwerbsfähigen Langzeitarbeitslosen, die Arbeitslosenhilfe bekamen, die aber keine Aufforderung hatten, sich am Arbeitsmarkt intensiv einzubringen und wieder Arbeit zu suchen. Sondern sie waren aussortiert. Es gab kein wirkliches Bemühen um Reintegration. Die Zahl dieser Menschen, die außen vor sind und Geld bekommen und ruhiggestellt sind, ist um 40 Prozent gesunken. Das ist eine gute Zahl, und sie wäre noch deutlich niedriger, wenn nicht zuwandernd neue hinzugekommen wären, die aber jetzt auch ihre Chance haben müssen."

Hartz IV und der Umbau des Sozialstaats

"Hartz IV war der Kern der Agenda 2010 von Gerhard Schröder, also dieses Programms, das er vorgelegt hat, um den deutschen Sozialstaat um- und abzubauen nach neoliberalen Vorstellungen."
Für den Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge waren die Schröderschen Maßnahmen der entscheidende Grund, die SPD 2005 zu verlassen.
"Wenn ein Diplomingenieur nach mehreren Jahrzehnten Arbeit und Beitragszahlung, arbeitslos wurde, meinetwegen sogar bis zur Rente, dann bekam er vorher bis zu dieser Rente Arbeitslosenhilfe. Diese Arbeitslosenhilfe wurde nicht, wie Gerhard Schröder das beschönigend nannte, mit der Sozialhilfe zusammengelegt, sondern sie wurde schlichtweg abgeschafft. Die Arbeitslosenhilfe war eine Lohnersatzleistung, die 53 beziehungsweise 57 Prozent des letzten Nettoeinkommens betrug. Und damit konnte der Diplomingenieur seinen Lebensstandard halten. Am 1. Januar 2005 mit Hartz IV fiel er auf das Niveau eines Fürsorgeempfängers hinab. Das heißt, er hatte plötzlich einen tiefen sozialen Abstieg – und seine Familie natürlich – zu verkraften. Und damit ist massenhaft Kinderarmut erzeugt worden. Das alles – die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und reich – hat alles mit der Agenda 2010 und mit Hartz IV zu tun."
"Ich glaube, Hartz IV ist nicht mehr die entscheidende Problematik. Leute, die in Hartz 4-Bezügen sind als Langzeitarbeitslose, das sind in Deutschland etwa 500.000 bis 600.000 Leute. Das ist, gemessen an den Arbeitsverhältnissen bei 80 Millionen, nicht sehr viel. Die nehmen auch immer weiter ab."

Armut trotz Vollzeit-Job

Der Soziologe Heinz Bude hat die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder bei der Entwicklung des Konzepts für die Agenda 2010 zeitweise beraten. Auch er sieht die Reform als einen Erfolg, allerdings als einen Erfolg mit Nebenwirkungen.
"Hartz IV hat ganz sicher dazu beigetragen, dass wir eine sehr robuste Arbeitsmarktsituation heute in Deutschland haben. Aber die andere Seite ist, dass wir eine neue proletarisierte Lage in Deutschland geschaffen haben, nämlich Leute, die viel arbeiten und nicht genug Geld für ihre Arbeit bekommen. Man nennt das in dieser amerikanischen Formel 'working poor', also Leute, die arm sind, obwohl sie arbeiten. Das ist die entscheidende Problematik, die wir heute haben."
Seit der Hartz-IV-Reform ist die Zahl der unter Tarif bezahlten Leiharbeiter von etwa 300.000 auf über eine Million gestiegen. Zudem wuchs der Niedriglohnsektor. Jeder fünfte Arbeitnehmer verdient heute weniger als zehn Euro pro Stunde, in Ostdeutschland ist es sogar jeder dritte. Daran konnte auch die Einführung eines Mindestlohns nichts ändern, der auch mit 9,19 Euro unter der Niedriglohnschwelle liegt. So ist die Zahl der Geringverdiener, die ihr Arbeitseinkommen mit Transferleistungen aufstocken müssen, seit der Einführung des Mindestlohns nur unwesentlich gesunken.

Zunehmende Armut trotz sinkender Arbeitslosenquote

Befristete Arbeitsverträge, der unverhältnismäßige Anstieg der Mieten, vor allem in Ballungszentren, sowie ein Auseinanderdriften hoher und niedriger Einkommen tragen dazu bei, dass trotz einer wirtschaftlich guten Lage das Gefühl sozialer Ungerechtigkeit in der Bevölkerung nicht abnimmt.
"Die Gentrifizierung wird ja nicht durch irgendwelche böswilligen – auch – ausländischen Konzerne vorangetrieben, die in Immobilien hinein investieren", sagt Heinz Bude, "sondern natürlich auch von neuen Gruppen, die nach München kommen, und die können die Mieten zahlen von 2000 bis 3000 Euro, weil sie so gut verdienen. Und es gibt in der Tat zehn Prozent der Haushalte in Deutschland in den mittleren Lagen der Gesellschaft, die in den letzten 20 Jahren erhebliche Haushaltsgewinne zu verzeichnen haben, denen stehen 40 Prozent der Haushalte in vergleichbarer Lage gegenüber, in denen sich die Einkommen nur sehr moderat weiterentwickelt haben. Das ist ein Problem, in der Tat, für das Ungerechtigkeitsempfinden."

Als arm gilt in Deutschland, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Das waren 2018 je nach Erhebung zwischen 15,8 und 16,8 Prozent der Bevölkerung, also mindestens 13,7 Millionen Menschen. Das sei Höchststand seit der Wiedervereinigung, schreibt der Paritätische Gesamtverband in seinem jüngsten Armutsbericht, in dem es ebenfalls heißt:
"Armutsentwicklung und Wirtschaftsentwicklung haben sich angesichts blendender Wirtschaftsdaten sichtlich entkoppelt. Das gleiche gilt für die guten statistischen Ergebnisse auf dem Arbeitsmarkt. Der Anstieg der Armut erfolgt trotz abnehmender Arbeitslosenquote und trotz zunehmender Erwerbstätigenzahlen. Mit anderen Worten: Die Armut ist hausgemacht. Wohlstand und Reichtum wachsen, doch wächst ebenso die Ungleichheit in diesem Lande."
Auf einem Plakat ist ein Monster zu sehen, auf das "Hartz IV" geschrieben wurde
Immer wieder wurde Hartz IV kritisiert – wie auf dieser Demo in Berlin.© Müller-Stauffenberg/imago

"Kinder zu haben, ist ein Armutsrisiko in Deutschland"

"Wir wissen, was Armut und Stress mit Eltern und mit Kindern macht. Sie sorgen für Chancenungleichheit, für einen unfairen Start ins Leben."
Eine Demo gegen Kinderarmut im Mai 2018 vor dem Brandenburger Tor. Auf der Bühne steht Christine Finke, Bloggerin und "Vorkämpferin" für die Rechte Alleinerziehender, wie es heißt.
"Kinder zu haben, ist ein Armutsrisiko in Deutschland. Und alleinerziehend zu sein, ist das größte Armutsrisiko. Egal, wie gut unsere Ausbildung ist, egal, wie motiviert wir sind, und egal, wie fleißig wir sind: Das Armutsrisiko bleibt und bleibt."
Christine Finke will sich nicht damit abfinden, dass ihre Kinder weniger Chancen und Teilhabemöglichkeiten haben als andere, nur weil sie alleinerziehend ist. Zwei Jahre nach ihrer Trennung verlor die promovierte Sprachwissenschaftlerin ihren Beruf als Redaktionsleiterin und arbeitet nun eher notgedrungen freiberuflich als Journalistin und Autorin. Einen festen Job konnte sie nach ihrer Kündigung nicht mehr finden.

"Weil ich als Alleinerziehende mit drei Kindern so ein rotes Tuch bin für Personalchefs und ich bin auch noch ziemlich alt mit 52. Als ich arbeitslos wurde, war ich 45, auch schon alt für den Arbeitsmarkt. Und bei uns ist es so, dass ich wirklich jeden Monat ängstlich auf mein Konto gucke und schaue, was kommt denn da rein. Was ist überhaupt möglich neben den Kindern, die mich ja auch brauchen, und wo ich auch Zeit investiere. Und das auf Dauer belastet wirklich sehr, dass man nie weiß, wie geht das jetzt weiter. Und bei mir ist es so, dass wir drei Jahre lang mehr oder weniger Wohngeld bezogen haben, teils auch mit Lücken, und immer, wenn ich aus dem Wohngeld raus war, war ich sehr stolz, weil das ja bedeutet, ich verdiene mehr als das Existenzminimum. Aber wahrscheinlich muss ich es wieder beantragen, denke ich. Also wir krebsen immer so rum am Existenzminimum."
Ein Mann mit einem Kind auf dem Arm und einem an der Hand wirft einen Schatten auf eine mit bunten Handabdrücken bemalte Wand einer Kindertagesstätte.
Alleinerziehende sind in Deutschland überdurchschnittlich stark von Armut bedroht. © Peter Kneffel/dpa

"Es braucht eine ganz große Reform"

Es scheint, als habe auch die Bundesregierung die soziale Schieflage erkannt und ein Bildungs- und Teilhabepaket gegen Kinderarmut zur Stärkung Alleinerziehender beschlossen. Immerhin ist mehr als ein Drittel aller alleinerziehenden Mütter und Väter von Armut betroffen, bei Alleinerziehenden mit zwei und mehr Kindern ist es sogar mehr als die Hälfte. Nach dem "Gute-Kita-Gesetz" ist unlängst das "Starke-Familien-Gesetz" auf den Weg gebracht worden. Für Christine Finke sind die jedoch nur sehr zögerlichen Schritte.
"Gut ist, dass der Ein-Euro-Beitrag zum Mittagessen gestrichen wird und dass auch die Beförderung zur Schule übernommen wird. Das ist gut. Aber das ist alles so klein-klein. Wenn nur 30 Prozent derjenigen, die berechtigt sind, das in Anspruch nehmen, und bei Hartz IV sind es nur 15 Prozent, dann kommt das Geld nicht an. Und damit ist es falsch. Es braucht eine ganz große Reform. Und es braucht eine komplett andere Herangehensweise, nämlich entweder die Kindergrundsicherung oder eine einfache Familienleistung, die niederschwellig ausgezahlt wird. Und der erste Schritt wäre jetzt, dass der Kinderzuschlag automatisch ausgezahlt wird, nicht nur auf Antrag."

Alleinerziehend - eine "Folge einer Lebensentscheidung"?

"Viele Alleinerziehende müssen in der Tat sehr viel mehr Geld aufwenden, um durchzukommen, als wenn sie einen Partner hätten", meint auch Heinz Bude. "Das empfinden sie als extrem ungerecht, weil sie sagen: Alleinerziehend zu sein ist doch eine legitime Lebensform. Stimmt. Aber warum geht es mir schlechter als jemanden, der in einer Partnerschaft lebt?"
Der Soziologe sieht hier jedoch auch Grenzen der Sozialpolitik. Trennungen seien individuelle Entscheidungen, auf die der Staat nur sehr bedingt reagieren könne.
"Alleinerziehende sind in einer unangenehmen, zu Deutsch: Scheißlage. Die allermeisten. Es ist aber eine Kostenseite ihrer Lebensführung. Jetzt ist die Frage: Können wir staatliche Leistungen so justieren, dass man sagt: Ja, okay, du lässt dich scheiden, aber wir schauen jetzt mal so, dass deine Lebenschancen materiell so bleiben, als wenn du in einer Partnerschaft leben würdest. Das ist schwierig hinzukriegen. Die Leute sagen aber: Wieso? Ich kann doch wegen meiner Kinder… Ich kann mich nicht so gut auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen. Das stimmt. Es ist aber auch eine Folge einer Lebensentscheidung."
"Wenn der Staat sich in Familienentscheidungen nicht einmischen soll, dann soll er bitte erstmal das Ehegattensplitting abschaffen", wiederspricht Christine Finke. "Die Argumentation ist völlig absurd. Und sehr viele Alleinerziehende trennen sich ja nicht freiwillig so wie ich, sondern werden verlassen, weil der Partner jemand Neues gefunden hat, der vielleicht noch jünger und lustiger ist. Das ist komplett ungerecht, das als Lebensentscheidung darzustellen, denn die Frauen stehen dann komplett alleine da, haben im Beruf zurückgesteckt und sich darauf verlassen, dass der Partner und die Ehe weiterhin bestehen. Und darunter leiden am Ende die Kinder. Also der Staat ist in der Pflicht, sich um die Kinder zu kümmern, denn die können das nicht selbst tun, und die Erwachsenen, die Alleinerziehenden, die Getrennten sind oft so überlastet, finanziell in Sorge und vollkommen gestresst, dass der Staat zumindest die verdammte Pflicht hat, es ihnen so leicht wie möglich zu machen, für die Kinder die Gelder zu organisieren."

"Wer arm ist, der ist auch politisch ohnmächtig"

Soziale Gerechtigkeit, die faire Verteilung von Chancen, Ressourcen und Teilhabemöglichkeiten, muss in einer demokratischen Gesellschaft immer wieder neu verhandelt, Rechte müssen erkämpft werden. Deshalb engagiert sich Christine Finke gegen Kinderarmut und für mehr Chancengerechtigkeit, schreibt in ihrem viel gelesenen Blog "Mama arbeitet" über ihre Sorgen und Nöte und setzt sich als Stadträtin in ihrer Heimatstadt Konstanz für Veränderungen ein. Andere – wie ihre Nachbarin – haben sich inzwischen frustriert von den etablierten Parteien abgewendet.
"Sie ist auch alleinerziehend, ein Kind, sie ist Verkäuferin. Die konnte ich grad noch davon abhalten, letztes Mal die AfD zu wählen, weil sie sagte, sie weiß nicht, wen sie wählen soll, die sind alle Mist. Ich hab ihr dann erklärt, was die AfD für ein Programm für Alleinerziehende hat. Und dann hat sie gesagt, dann geh ich eben gar nicht wählen. Das war mir in dem Fall noch lieber. Aber es sind viele frustriert, ich übrigens auch. Engagiert zu sein und frustriert zu sein, schließt sich nicht gegenseitig aus."

"Wer arm ist, der ist auch politisch ohnmächtig, der geht häufig auch nicht zur Wahl, weil er resigniert, weil er sich zurückzieht in seinen Privatraum, wenn er den denn hat, und dort natürlich nicht Einfluss nimmt auf politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse."

Wir verzweifeln "an einer Welt, die besser wird"

Während der Armutsforscher Christoph Butterwegge soziale Ungerechtigkeit und den fehlenden politischen Willen, dagegen etwas zu unternehmen, als zentrale Ursachen für die Krise der Volksparteien und das Erstarken des rechten Randes sieht, warnt Ex-Caritas-Chef und Buchautor Georg Cremer davor, die Protestwählerschaft zu stärken, indem man den Wohlfahrtsstaat schlecht redet.
"Ich glaube auch, dass wir in bestimmten Fragen deutlich sensibler werden. Was die Lage von Kindern angeht, sind wir sensibler als in früheren Dekaden, wir intervenieren früher. Und wenn wir nicht berücksichtigen, dass wir politisch und sozial sensibler werden und in dieser Sensibilität auch Notlagen sehen, die wir früher ignoriert haben, dann verzweifeln wir auch an einer Welt, die besser wird."
"Also ich will Ihnen die Situation bei Münteferings erzählen, bei meinen Eltern. Meine Mutter war nie berufstätig, das konnte die auch nicht, weil es gab keinen Elektroherd, keine Waschmaschine, keine Heizung. Sie musste für das Vieh sorgen, in den Garten gehen, das war so. Nach den heutigen Rechnungen war die arm. Wenn man ihr das gesagt hätte, wäre die tief enttäuscht gewesen, und Vater wäre wütend. Die haben nämlich gelebt von der Rente meines Vaters. Das war normal. Heute in der Statistik würde sie als arm mitgezählt werden."
Wie hilft man denen, denen es schlecht geht in einer Welt, die besser wird? Mit dieser Frage tun sich Politiker derzeit schwer. Nicht umsonst bemühte sich Martin Schulz 2017 vergeblich, seinen Slogan "Zeit für mehr Gerechtigkeit" mit Inhalten zu füllen. Wer sagt, er wolle mehr Gerechtigkeit, muss auch sagen, für wen – und vor allem, wem er dafür etwas nehmen will. Gerechtigkeitsfragen sind Verteilungsfragen. Mehr Gerechtigkeit für alle wird es nicht geben. Insofern ist soziale Gerechtigkeit vielleicht eine Utopie. Dennoch wäre etwas mehr davon selbstredend wünschenswert in einem Land, in dem eine tiefe Kluft zwischen Arm und Reich mittlerweile als naturgegeben zu gelten scheint. Möglicherweise geht es auch gar nicht allein um Gerechtigkeit, meint der Soziologe Heinz Bude, sondern um einen in Zeiten des Neoliberalismus etwas aus der Mode gekommenen Begriff: Solidarität!
"Solidarität ist was anderes. Zu sagen: Du hast Pech gehabt, hast vielleicht auch selber was falsch gemacht. Trotzdem helfen wir dir. Und diese Bereitschaft, trotzdem zu helfen, trotzdem Leuten etwas Gutes zukommen zu lassen, hat abgenommen. Weil die Leute sehr viel mehr fragen: Was kostet das denn eigentlich? Wieso soll es denen eigentlich besser gehen, die ein Kind haben und sich haben scheiden lassen, ist doch ihre Sache. Ich muss auch schwer arbeiten. Hab ich so viel in den letzten Jahren verdient? Nein! Jetzt kommen die und wollen auch noch was haben. Das ist ein hartes Gerechtigkeitsargument, das ist kein Solidaritätsargument. Und das Solidaritätsargument schwindet in unserer Politik. Das ist das eigentliche Problem, was wir, was das Empfinden der Menschen betrifft, haben. Die meisten glauben, jeder muss für sich selber sorgen, wir kriegen ja alle sowieso zu wenig. Ich kann mich jetzt nicht auch noch um andere kümmern. Und das, glaube ich, führt uns in keine gute Zukunft."
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