Überflussgesellschaft

Von den Erfahrungen der Ostdeutschen lernen

Zwei Menschen reparieren in Ostberlin einen Trabant. Die Aufnahme ist in Schwarz-weiß. Eine Person liegt unter dem Auto, eine andere werkelt an der Fahrerseite herum.
Hilf dir selbst: In der DDR wurde viel repariert - auch das eigene Auto. © picture alliance / Caro / Teich
Gedanken von Martin Ahrends · 19.09.2023
Klimawandel und Umweltzerstörung fordern, dass wir unseren Lebensstil radikal beschränken. Nach den vielen fetten Jahren müssen die Menschen in Deutschland das wieder erlernen, meint der Autor Martin Ahrends. Er hat dafür eine Idee.
Unser Lebensstil ist in ständiger Bewegung, womit nicht jener Lifestyle gemeint ist, den die Werbebranche erfindet, um den privaten Konsum anzupeitschen. Gemeint ist jenes soziale Gewächs, das von den Soziologen Norbert Elias und Pierre Bourdieu auch im Begriff des Habitus beschrieben wurde: unsere Art, das Leben zu bestehen, es zu genießen und mit ihm fertig zu werden.

Die „Verbequemlichung“ des Alltags

In 78 Friedensjahren hatte unser Lebensstil Zeit genug, sich so allmählich zu entwickeln, dass uns dessen Wandlungen kaum auffielen. Von Hunger und Not des unmittelbaren Nachkriegs bis in die Überflussgesellschaft war es ein großer Sprung und konnte uns doch als fließender Übergang erscheinen.
Wegwerfgesellschaft ist die negativ konnotierte Bezeichnung für einen Lebensstil, der uns im Alltag nicht negativ erscheint, weil wir uns in Jahrzehnten allmählich daran gewöhnt haben. Wir haben uns an Dinge gewöhnt, die wir eigentlich nicht brauchen, die bei näherer Betrachtung sogar hinderlich sind.
Auch die fortschreitende „Verbequemlichung“ des Alltags ist nicht nur von Vorteil. Aber in 78 Jahren wuchs die Macht der Gewohnheit.

Verzicht als Akt der Emanzipation

So viel Zeit haben wir fürs Abgewöhnen nicht. Nun muss es schnell gehen mit dem Wandel unseres gewohnten Wohlstands, nun muss er zurechtgestutzt werden auf das Maß des ökologisch Sinnvollen.
Freiwillig mit weniger auszukommen, liegt uns Menschen nicht. Dabei steht uns gar nicht die Rückkehr in Zustände von Not und Mangel bevor. Was uns bevorsteht, kann sehr befreiend sein, wenn wir es richtig anstellen. Ein Akt der Emanzipation aus dem Diktat des Lifestyles.
Aber so genau weiß niemand, wie das anzustellen ist: Auf Überflüssiges zu verzichten. Was ist denn überflüssig in einer Überflussgesellschaft? Wer bestimmt das? Wie lassen sich schlechte Angewohnheiten verlernen? Wo bringt Verzicht mehr Lebensqualität?
Das sind Fragen, die sich kaum theoretisch, wohl aber praktisch beantworten lassen. Was vor uns liegt, ist unbekanntes, offenes Gelände des kollektiven Selbstversuchs.
Mein Vorschlag: Ein „Forum Lebensstil“, landesweit vernetzt, wo Alltagsideen und deren praktische Erprobung geteilt und diskutiert werden können. Über schlechte Angewohnheiten und alternative Erkundungen im Alltag, auch über Entdeckungen in der Literatur und in fremden Kulturen könnten wir uns austauschen in Sachen Arbeit, Verkehr, Bauen und Wohnen, Essen und Kleidung, Sport, Freizeit und Tourismus, Feste und Rituale, auch wenn es ums Kranksein und Sterben geht.
Schwindende Ressourcen und Umweltschäden erfordern Einschränkungen vor allem in den Industrieländern, deren ökologischer Fußabdruck um ein Vielfaches höher ist als anderswo auf der Welt. Andererseits aber haben gerade die Industrieländer die Kapazitäten, die bevorstehenden Einschränkungen positiv zu deuten und neue Formen des Lebensstils zu erproben. Und so der Welt ein besseres Beispiel zu geben.

An Erfahrung aus der Mangelwirtschaft anknüpfen

Ohne Verordnungen wird es dabei nicht gehen. Aber die demokratische, die diskursive Variante eines „Forums Lebensstil“ wäre der allgemeinen Akzeptanz dienlicher. So könnten auch jene Ostdeutschen mitreden, die sich bisher nicht wahrgenommen fühlen, denn es geht um Neuland, das wir gemeinsam betreten.
In Ostdeutschland gibt es spezielle Erfahrungen aus der sozialistischen Mangelwirtschaft: nicht nur mit dem Verzicht auf Überflüssiges, auch mit dem sparsamen Einsatz von Rohstoffen und dem Recycling, mit der Reparatur und Nachnutzung von Industrieprodukten, mit dem kreativen Selbermachen und Improvisieren, mit dem Transport per Rad und Bahn - und mit der Naherholung.
Die Frage, was der Osten denn in die deutsche Einheit mitgebracht habe außer einer maroden Infrastruktur, diese Frage stellt sich neu, wenn es angemessene Formen gibt, die Zukunft gemeinsam zu erfinden.

Martin Ahrends, geboren 1951 in Berlin. Studium der Musik, Philosophie und Theaterregie. Anfang der 80er-Jahre politisch motiviertes Arbeitsverbot in der DDR. 1984 Ausreise aus der DDR. Redakteur bei der Wochenzeitung „Die Zeit“ und seit 1996 freier Autor und Publizist.

Porträtfoto von Martin Ahrends
© privat
Mehr zum Thema