Klimawandel

Der eurozentrierte Blick auf die Katastrophe

Schlammige Gegenstände türmen sich in einer Straße: Flutschäden in der norditalienischen Stadt Faenza.
Der Klimawandel sorgt für Extremwetterlagen wie Dürre und Hochwasser: Flutschäden in der norditalienischen Stadt Faenza. © picture alliance / NurPhoto / Alessandro Bremec
Ein Kommentar von Şeyda Kurt |
Der Klimawandel ist in Europa längst spürbar. Trotzdem werden hiesige Naturkatastrophen immer wieder mit Verwunderung kommentiert: Sie passen einfach nicht ins kolonial geprägte, westliche Selbstbild, sagt die Autorin und Journalistin Şeyda Kurt.
Nach Monaten extremer Dürre trafen kürzlich verheerende Fluten den Norden Italiens. In zwei Tagen fiel an manchen Orten so viel Regen wie normalerweise in einem ganzen halben Jahr. Die Bilder in den Nachrichten schienen surreal: Ganze Viertel standen unter Wasser. Mehr als 20.000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen. Sie haben alles verloren: Möbel, Kleidung, Familienalben. 14 Menschen starben.

Katastrophenbilder aus Europa

Schock und Mitgefühl, das waren meist die Reaktionen aus Deutschland. Manchmal aber auch überraschtes Staunen und irritierende, ja, fast weltfremde Analysen: „Die Klimakrise ist an den Toren Europas angekommen“, titelte zum Beispiel die Wochenzeitung „Der Freitag“. Hat sie dabei nicht schon längst europäische Türen und Tore eingerissen?
Dass man sich an die Katastrophenbilder nicht gewöhnen will, ist verständlich. Doch zugleich verstärkt sich mit solchen Überschriften der Eindruck, dass man in Deutschland noch immer nicht wahrhaben will, dass die globale Klimakrise schon längst Teil unserer europäischen Realität ist – und nicht nur ein Problem anderer Geografien.

Hochwasser in Deutschland und Italien

Als hier im Sommer 2021 mehr als 160 Menschen durch Hochwasser und schwere Überflutungen starben, war der Tenor ähnlich: Zerstörte Häuser, Autos, die wie Legosteine durch die Straßen schwimmen, tagelang kein fließendes Wasser und Strom – das alles passiert in Deutschland? In der Talksendung Maybrit Illner kommentierte der Wissenschaftsjournalist Eckart von Hirschhausen gar: „Das sind Bilder, die kennen wir nur von den Philippinen.“ Oder wie es viele Menschen in den sozialen Medien formulierten: So etwas passiert doch nur in armen, exotischen Ländern!
Das ist ein Selbstbild, mit dem sich westeuropäische Gesellschaften gerne vom globalen Süden abgrenzen; von Ländern, die vermeintlich weniger entwickelt sind, hilflose Opfer von Naturkatastrophen, ohne Infrastruktur zur Bewältigung dieser Krisen, ohne Kontrolle über Menschen und Natur. Es ist ein Selbstbild in kolonialer Tradition. Hilflos sind demnach immer nur die anderen.

Klimakatastrophen? Nicht unser Bier!

Wir sind es gewohnt, Gewaltvolles auf andere Kontinente auszulagern. Denn so funktioniert ja auch der globale Kapitalismus: Die Produktion unserer Waren unter menschenunwürdigen Bedingungen ist auf andere Kontinente ausgelagert, genauso wie die Zerstörung von Wäldern und Gewässern für unsere Sojamilch.
Das eurozentrische Weltbild der eigenen Erhabenheit – selbst bei Naturkatastrophen – geht also Hand in Hand mit Wirtschaftsinteressen. Der Glaube an die eigene Unbezwingbarkeit ist nicht nur förderlich fürs kollektive Wohlbefinden, sondern auch für das Image des Wirtschaftsstandorts Europa als sicherer, unantastbarer Hafen für Investorinnen und Investoren. Klimakrise? Naturkatastrophen? Nur Nebensache und nicht unser Bier! Europa ist der Kontinent, auf dem Politikerinnen und Politiker, Industrievertreterinnen und Industrievertreter seit Jahren gegen kleinste europäische Klimaschutz-Reformen wettern, wie etwa das CO2-Zertifikatssystem.

Europa muss in Sachen Klimaschutz handeln

Doch die Jahre der vermeintlichen Stabilität und des Wohlstands, in denen Kriege und Umweltkatastrophen einfach in andere Erdteile ausgelagert werden, sind längst vorbei.
In Europa und gerade in Deutschland sollte man wissen, dass die Bilder der Katastrophen schon lange nicht an den eigenen Toren haltmachen: Beim Hochwasser im Frühsommer 2013 in Mitteleuropa mussten 55 deutsche Landkreise den Katastrophenalarm ausrufen, im Frühjahr 2016 starben in Süddeutschland bei Unwettern sieben Menschen. Die Liste ist lang – und sie wird länger werden, wenn Europa mit anderen Kontinenten gemeinsam keine nachhaltigen und konsequenten Antworten auf die globale Klimakrise findet.

Şeyda Kurt studierte Philosophie und Romanistik sowie Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux und Berlin. Als freie Journalistin schreibt sie unter anderem für den Zeit Verlag und war Kolumnist*in beim Theaterfeuilleton nachtkritik.de. Im April 2021 erschien ihr Sachbuchbestseller „Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist“, in dem sie Liebesnormen im Kraftfeld von Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchat untersucht. 2023 ist Kurts zweites Sachbuch erschienen: „Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls“.

Die Journalistin und Buchautorin Şeyda Kurt
© Thomas Spies
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