Klimawandel in der Schweiz

Die Gletscherkühler

21:59 Minuten
Der Glaziologe Felix Keller, rechts, arbeitet im Schweizer Engadin mit Yasin Ahmad von der Universitaet Ladakh an einer Eisstupa.
Forschung im Schweizer Engadin: Das Team um den Glaziologen Felix Keller testet mit einer Pilotanlage Möglichkeiten zur Gletscherrettung. © picture alliance / Keystone / Gian Ehrenzeller
Von Dietrich Karl Mäurer · 03.11.2021
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Mit innovativer Technik versuchen Schweizer Glaziologen, das Schmelzen der Gletscher aufzuhalten. Kann es tatsächlich gelingen, die bedrohten Eismassen langsam wieder in die Länge wachsen zu lassen?
Es tropft. Es bilden sich Rinnsale, die sich zu kleinen Bächen vereinen. Es entsteht eine Spannung, die das Eis krachen lässt, wenn die Sonne einen Gletscher zum Schmelzen bringt.
"Wenn kleine Gletscher sterben, ist es nicht an sich schlimm. Wir haben eine Veränderung der Landschaft, mehr Geröll kommt zum Vorschein, Bergflanken werden instabiler, da sie weniger durch das Eis stabilisiert sind. Wir verlieren die Attraktivität des Gebirges, aber grundsätzlich hat es keinen größeren Effekt", sagt der Schweizer Gletscherforscher Matthias Huss.
Er beobachtet seit Jahren wie die Erderwärmung das Eis der Alpen in Rekordtempo schmelzen lässt. "Wenn aber die großen Gletscher zu schmelzen beginnen und vielleicht ganz verschwinden, dann hat es durchaus weitreichende Folgen."
Erste Gletscher sind bereits komplett verschwunden, viele haben deutlich an Ausdehnung und Volumen abgenommen. Während Archäologen aus dem schwindenden Eis Zeugen vergangener Zeiten bergen, versuchen andere, die Gletscherschmelze mit technischen Maßnahmen zu bremsen.

Gletscher mit einem riesigen Vlies abdecken

Der Gletscher Gurschenfirn am knapp 3000 Meter hohen Gemsstock oberhalb des Bergdorfs Andermatt. Jedes Jahr, wenn die Skisaison vorbei ist und die Temperaturen steigen, wird es gleich unterhalb der Bergstation der Seilbahn, am obersten Abschnitt der dortigen Skipiste, geschäftig.
Schnee wird mit Planierraupen so zusammengeschoben, dass der darunterliegende Gletscher gut abgedeckt ist. Schließlich wird alles mit einem riesigen Vlies abgedeckt
Auch Dani Meyer von der Ski-Arena Andermatt-Sedrun-Disentis hilft mit: "Dann legen wir eine Vliesbahn an die andere, die sind fünf Meter breit und 50 Meter lang, und nähen diese dann mit einer Industrienähmaschine zusammen."
Um den Gletscher für den Sommer zu "verpacken" wird ein Spezialvlies verwendet: "Das ist robuster als irgendwie normales Vlies, das man im Baumarkt erhält. Es ist auch dicker. Und es ist vor allem auch resistent gegen das Wetter."
Die weiße Abdeckung soll gleich mehrfach gegen die Gletscherschmelze wirken. Das Vlies reflektiert zum einen das Sonnenlicht, gleichzeitig isoliert es den Gletscher, hält ihn somit kühl und schützt ihn vor Regen, der das Tauen beschleunigen würde.

Es geht um wirtschaftliche Interessen

Der Gurschenfirn war 2005 der erste Gletscher der Schweiz, der mit derartigen Textilbahnen abgedeckt wurde. Daraus wurde eine jährliche Routine. Das Motiv dafür ist nicht Landschaftspflege oder Naturschutz, sondern es geht um wirtschaftliche Interessen. Durch die Abdeckung des Gletschers soll das Skigebiet am Gemsstock gerettet werden. Denn nach einem Hitzesommer war das Eis des Gletschers so stark abgeschmolzen, dass Skifahrende nicht mehr von der Bergstation der Seilbahn auf die Gletscherskipiste gekommen wären.
Auf dem Gurschengletscher am Gemsstock in 2961 Meter oberhalb von Andermatt wird am Dienstag (10.05.2005) ein Abdeckvlies über das Eis und den Felsen gelegt, um im Sommer das weitere Abschmelzen des Gletschers zu verhindern. Vorerst wird eine Fläche von 2500 Quadratmetern damit geschützt. Rund 80 Journalisten, Fotografen und Kameraleute aus aller Welt verfolgten diesen Anlass.
Im Jahr 2005 war der Gurschenfirn der erste Gletscher der Schweiz, der mit derartigen Textilbahnen abgedeckt wurde.© picture-alliance/ dpa / Keystone / Sigi Tischler
"Früher war jetzt auf dieser Höhe sicher Gletscher bis nach oben. Der Gletscher ging dann immer mehr zurück und man kam tiefer und die Felsen sind senkrecht. Also: So kommt man dann auch nicht mehr auf die Pisten herunter."
Die Abdeckung des Gletschers mit Vlies hoch oben am Berggipfel ist extrem aufwendig, erläutert Dani Meyer: "Wir haben mal grob durchgerechnet. Wir schätzen so – pro Saison – der ganze Aufwand mit Personal, mit Maschinenstunden, mit neuem Material kostet uns, nur dieser Punkt, für diese Schneerampe, circa 50.000 Franken."
Eine enorme Investition für ein relativ kleines Stück Gletscher. Doch sie soll das Skigebiet in Andermatt erhalten und die Arbeitsplätze sichern. Ob sich dieser Aufwand lohnt, wurde an verschiedenen Schweizer Forschungseinrichtungen analysiert.
Der Studienleiter, Glaziologe Matthias Huss von der Technischen Hochschule ETH Zürich, sagt: "Grundsätzlich funktionieren diese Methoden sehr gut. Das heißt, wenn ich das Eis mit Vlies abdecke oder auch zusätzlich künstlichen Schnee darauf werfe, dann reduziert es die Schmelze an diesem Punkt, wo ich das mache, sehr, sehr deutlich."

Unter dem Vlies schmilzt 60 Prozent weniger Eis

Unter dem Vlies schmilzt rund 60 Prozent weniger Eis und Schnee als daneben. Warum er die Maßnahmen trotzdem skeptisch sieht, erklärt Matthias Huss später. Er ist der Leiter des Schweizerischen Gletschermessnetzes GLAMOS. Er hat in dieser Funktion nicht nur einzelne Gletscher im Blick, sondern alle in der Eidgenossenschaft. Jahr für Jahr vermisst das GLAMOS-Team über 100 Gletscher. Und stellt so zum Beispiel fest, wie sich deren Länge verändert.
"Das macht man wirklich mit einem Maßband. Man misst dort einfach. Wo steht die Gletscherzunge, also das Ende des Gletschers? Und wie viel zieht sie sich zurück von einem Jahr zum nächsten? Viel aussagekräftiger, aber auch aufwendiger zu messen, ist die sogenannte Massenbilanz", erklärt er.
"Dort bestimmt man wirklich auf dem Gletscher, wie viel Eis schmilzt an verschiedenen Stellen. Wir haben dort Messstangen, die ins Eis eingebohrt werden. Und an diesen Stangen kann man ablesen, ob wir eine Reduktion der Eisdicke an dieser Stelle haben oder ob vielleicht sogar im oberen Bereich eine Schicht Schnee dazukommt."
Mithilfe dieser Daten zusammen mit Luftaufnahmen wird nicht nur die Massenbilanz der Gletscher bestimmt, sondern auch ihre Fließgeschwindigkeit. Nirgendwo sonst in der Welt wird ein so umfassendes Lagebild erstellt wie in der Schweiz.
1463 Gletscher gibt es in der Schweiz. Sie haben eine Fläche von rund 944 Quadratkilometern – noch! Denn die Gletscher sind seit Jahrzehnten auf dem Rückzug. Pro Jahr – so erzählt Matthias Huss – nahm ihre Fläche um rund ein Prozent ab, in den letzten Jahren gar um zwei Prozent.
"Jetzt mit der Klimaänderung passiert es, dass wir weniger Schneefall kriegen, da die Temperaturen auch wärmer werden, auch im Herbst und im Frühjahr, deshalb mehr Niederschlag als Regen fällt. Dafür haben wir im Sommer viel stärkere Schmelze. Also weniger kommt rein und mehr geht raus. Und damit verliert der Gletscher an Masse", erklärt er.
Das sei grundsätzlich ein natürlicher Prozess. Mal gibt es in einem Jahr viel Schnee und wenig Gletschereis schmilzt, dann gibt es Jahre mit weniger Schnee und starker Eisschmelze. Kritisch werde es allerdings, wenn es über Jahrzehnte immer in die gleiche Richtung ausschlägt.

Seit rund 40 Jahren massive Gletscherschmelze

"Das ist genau jetzt der Fall. Sehr stark sichtbar seit etwa 40 Jahren, wo wir eigentlich ohne Unterbruch negative Massenbilanzen haben, einen massiven Verlust des Gletschers. Aber das Ganze hat schon etwa um 1850 begonnen, als die Gletscher begonnen haben, stark an Masse zu verlieren. Und der Prozess hat sich jetzt eben noch weiter beschleunigt." Beunruhigend, so nennt das der Glaziologe.
Denn mittlerweile sind in der Schweiz viele Gletscher komplett weggeschmolzen: "Wenn wir vergleichen mit dem Jahr 1900, dann sind schon gegen 1000 Gletscher – würde ich sagen – ganz verschwunden. Aber dort sprechen wir natürlich von den allerkleinsten Gletschern. Der Verlust ist nicht gewaltig, wenn wir diese kleinen Eisflecken verlieren, aber jetzt geht es natürlich dann langsam auch den großen Gletschern an den Kragen."
Wer heute – gut 150 Jahre später – die Gletscher in der Schweiz bestaunen will, muss oft einen längeren Weg bis zu den Gletscherzungen auf sich nehmen, denn sie haben sich zurückgezogen. So auch an einem der größten Alpengletscher überhaupt, dem Morteratsch im Engadin in Graubünden. Er ist der meistbesuchte Gletscher des Landes, wohl auch, weil er besonders bequem erreicht werden kann.
In knapp 1900 Metern Höhe halten die roten Schmalspurzüge der Bernina-Bahn noch immer dort, wo früher der Ausläufer des Gletschers war: "So hier 100 Meter von der Bahnstation entfernt sieht man eine kleine Rinne im Gelände quer über die Fußwege und das ist eigentlich eine Moräne, die anzeigt, wo die Gletscherzunge 1860 war."
Um durchschnittlich 20 bis 30 Meter schrumpft der über sechs Kilometer lange Gletscher jedes Jahr – erzählt Hans Oerlemans und zeigt auf mit Jahreszahlen versehene Stehlen entlang des Wanderwegs, die den Rückzug des Morteratschs veranschaulichen sollen.
Der Niederländer ist Meteorologe und Geophysiker und beobachtet hier das Schrumpfen des Gletschereises schon seit Langem: "Die Gletscherzunge ist jetzt fast drei Kilometer weg und man sieht hier auch, hier wachsen Bäume. Das hat natürlich angefangen, sobald die Gletscherzunge sich zurückzieht."

Eine Messstation auf der Gletscherzunge

Als einer der Ersten überhaupt hat Hans Oerlemans 1995 eine Messstation direkt auf einer Gletscherzunge aufgebaut, hier am Morteratsch.
Seitdem wird dort eine lange Reihe von Parametern erfasst: "Wir messen Temperatur, Feuchtigkeit, Wind, Sonnenstrahlung, langwellige Strahlung, Schneehöhe, Schneetemperatur – eigentlich alle Parameter, die man braucht, um rauszufinden, wie viel Energie in die Oberfläche geht oder rauskommt. Und alles, was in die Oberfläche geht, wird dann irgendwann benutzt für den Schmelzprozess."
Weltweit gibt es mittlerweile solche Messstationen. Sie zeigen: Die Erwärmung verläuft in den Alpen schneller als im globalen Durchschnitt. Warum – das kann die Wissenschaft noch nicht vollständig erklären, sagt Hans Oerlemans.
Aussicht auf den Morteratschgletscher
Der Morteratschgletscher im Schweizer Engadin schrumpft jährlich um durchschnittlich 20 bis 30 Meter.© picture alliance / Bildagentur-online / Protze-McPhot
Mit seinen Energiebilanzmessungen will er herausfinden, wie genau sich der Klimawandel auf die Gletscher auswirkt: "Wir wollen wissen, wenn es ein Grad wärmer wird, was bedeutet das? Schmilzt ein Meter Eis mehr oder zehn Zentimeter oder zehn Meter?"
Wie empfindlich die Gletscher auf steigende Durchschnittstemperaturen reagieren, kann Hans Oerlemans anhand seiner Energiebilanzmessungen klar aufzeigen.
"Wir können ganz allgemein sagen, für die großen Alpengletscher bedeutet ein Grad Temperaturanstieg zwei Kilometer Rückzug", erklärt er. "Das ist so grob gesagt die Größenordnung. Das haben wir herausgefunden. Aber ein Gletscher ist natürlich langsam. Es ist nicht so, wenn ich es jetzt ein Grad wärmer mache, dass er gleich kürzer wird. Das dauert. Der Gletscher, der braucht schon 20, 30 Jahre."

"Der Mensch wird immer stärker"

Klimaskeptiker, so sagt Hans Oerlemans, würde er gern mitnehmen zum Morteratschgletscher, wo man die Folgen der Erderwärmung so deutlich sehen kann.
Dabei sind die Ursachen des Klimawandels für den Wissenschaftler klar: "Es ist immer eine Mischung aus natürlichen Faktoren und Mensch, aber der Mensch wird immer stärker. Und ich bin davon überzeugt, dass wir in den letzten 20 Jahren sehen, das ist hauptsächlich Treibhaus. Da bin ich sicher."
Und der Meteorologe und Physiker ergänzt: "Wir wissen genau, was ein CO2-Molekül in der Atmosphäre mit Strahlung macht. Das wissen wir ganz genau!"
Dass es seit einigen Jahren auch in hochalpinen Lagen so warm wird, dass sogar dort das eigentlich "ewige" Eis der Gletscher schmilzt, beschert Regula Gubler viel Arbeit. Die Berner Archäologin betreut in gut 2700 Metern Höhe archäologische Fundstellen – etwa am Schnidejoch – einem in der Jungsteinzeit genutzten Gebirgspass in den westlichen Berner Alpen – oder am Lötschenpass.
"Also bei uns sind die typischen Fundstellen eigentlich nicht im Gletscher, sondern sind Eisfelder, Firn-Felder. Die sind neben dem Gletscher", ezählt sie. "Das sind eigentlich stationäre Eisfelder. Das Eis bildet sich und bleibt über Jahrtausende und deswegen können auch Jahrtausende später wieder Objekte rausschmelzen."

Gletscherschwund legt alte Funde frei

Das bekannteste durch den Gletscherschwund freigelegte archäologische Objekt ist der Ötzi. Die 5000 Jahre alte Steinzeitleiche wurde 1991 auf dem Tisenjoch gefunden. Seitdem hat die Gletscherarchäologie immer mehr zu tun. Zwischen August und September, also, wenn in der Sommersonne der letzte Schnee des vergangenen Winters weggetaut ist und bevor der erste neue Schnee fällt, tauchen Jahr für Jahr faszinierende Funde auf.
"Also wir haben zum Beispiel ein Geflecht, das 2019 rauskam, das ist 4500 vor Christus – steinzeitlich. Und dann haben wir aus der Zeit um 2800 vor Christus vom Schnidejoch ein Bogenfutteral aus Birkenrinde, also in dem ein Bogen und Pfeile transportiert werden konnten. Wir haben aus derselben Zeit auch das Bein einer Lederhose. Aus der Bronzezeit, also so um 2000 vor Christus, haben wir einen Schuh. Und ein Gewebe aus Wolle", erzählt die Archäologin.
Die Zeugen der Vergangenheit – aus Holz, Leder, Wolle oder Bastfasern – wurden im Eis konserviert. Nun bietet die Gletscherschmelze Gelegenheit, Wissenslücken über das Leben vor Tausenden Jahren zu füllen. Die Fundstücke gestatten einen ganz neuen Blick auf den Reichtum von Alltagsgegenständen, die die Menschen der Urgeschichte nutzten:
Beim archäologischen Dienst des Kantons Bern öffnet Regula Gubler eine ihrer roten Schatzkisten. Darin befindet sich – gut gepolstert zwischen Schaumstoffkissen – das fast 5000 Jahre alte Bogenfutteral aus Birkenrinde:
"Das Futteral ist das einzige in der Welt, ist das einzige jungsteinzeitliche Bogenfutteral, das heißt, es zeigt, dass eine ganz neue Objektkategorie überhaupt existierte", erklärt sie. "Es kann auch viel sagen, wie die Menschen, die Materialeigenschaften zu nutzen wussten, wie sie sie verarbeitet haben, also zum Beispiel kann man jetzt sehen bei der Birkenrinde: Sie haben immer, wenn sie die Birkenrinde abnehmen am Baum, ist die Innenseite, die stabile, mechanisch stabile Seite und die ist dann auf dem Objekt außen als Schutz."
Regula Gubler findet es spannend, dass sie und andere Wissenschaftler durch die Erderwärmung auf Dinge stoßen, die normalerweise bei Ausgrabungen nicht gefunden werden.
Doch in die Freude mischen sich Sorgen: "Wir merken, dass es immer mehr schmilzt, und irgendwann sind dann diese Eisfelder weg. Dann ist nichts mehr übrig, das heißt, wir haben jetzt auch ein kurzes Zeitfenster."

Gletscherbeschneiung als Gegenmaßnahme

Zurück ins Engadin, zum Morteratschgletscher. "Der Gletscher insgesamt verliert im Moment pro Jahr etwa 15 Millionen Tonnen Eis. Allein an einem Hitzetag können bis zu eine Million Tonnen Eis schmelzen", erzählt Felix Keller.
Der Gletscherforscher vom Zentrum für angewandte Glaziologie in Samedan will dieser Entwicklung gegensteuern und das Sterben des Gletschers aufhalten. Er hat sich ein gigantisches künstliches Beschneiungssystem ausgedacht. Quer über den Gletscher will er ein-Kilometer-lange Seile spannen, daran Wasserleitungen und Hunderte Sprühdüsen befestigen.
Blick auf die Kunstschnee-Beschneiungsanlage im Gebiet des Morteratschgletschers
Pilotanlage zur Gletscherrettung: Hier wird die Wirkung der Beschneiung mit Kunstschnee aus Schmelzwasser erforscht.© Wolfgang Wanner / ARD Genf
Sie sollen aus Schmelzwasser eines oberhalb gelegenen Gletschers eine Kunstschneedecke erzeugen: "Wir bezeichnen das als eine Art Schmelzwasser-Recycling, das heißt, dass wir im Sommer, wenn massenweise Schmelzwasser anfällt, dass wir das oben behalten und dann im kalten Winter, daraus Schnee produzieren, um zuverlässig den Gletscher zu schützen."
Eine Pilotanlage wurde bereits in Betrieb genommen, gefördert unter anderem von der Schweizer Regierung. Die Technik funktioniert bei winterlichen Außentemperaturen und dank des durch das Gefälle vom Gletschersee herrschenden Drucks ohne Stromzufuhr.
Felix Keller sagt, viel Schnee sei nötig, um den Schutz bis zum Sommer zu erhalten: "Es braucht eine etwa zehn bis zwölf Meter hohe Schneedecke. Wenn man das umrechnet, dann sind das rund drei Millionen Tonnen Schnee, die wir jedes Jahr produzieren müssen."
Doch wie lässt sich diese gewaltige Menge Schnee am effizientesten erzeugen? Welche Düsengröße braucht es? Welchen Wasserdruck? Das will der Glaziologe mit seinem Versuch herausfinden. Kritiker bemängeln, dass die Anlage Millionen kostet und zudem einen enormen Eingriff in die Natur darstellt.
Felix Keller sagt dazu: "Auch mich schmerzt es, dass man quasi einen derart massiven Landschaftseingriff machen muss. Es geht darum, dass Menschen eine lohnenswerte Zukunft haben, damit sie überhaupt überleben."

Einsatzmöglichkeit auf dem Himalaya

Denn Millionen seien abhängig von den Gletschern und ihrer Funktion als Süßwasserspeicher – etwa im Himalaja. Dort sieht er eine Einsatzmöglichkeit für seine Technik. Durch das Beschneien könnte das Abschmelzen eines Gletschers nicht komplett gestoppt werden, sagt Felix Keller, aber – so kalkuliert er – um 30 bis 50 Jahre verzögert werden.
Die Schweizer Gletscher sind zu einem Symbol für den Klimawandel geworden, denn steigende Temperaturen und Hitzewellen haben dafür gesorgt, dass sie in den vergangenen Jahrzehnten stärker geschmolzen sind als je zuvor seit Beginn der Messungen.
Angesichts dessen scheint es nur logisch, dass versucht wird, das Sterben der Gletscher zu stoppen – sei es mit Beschneiungsanlagen oder durch die Planen, die über einzelne Gletscher gelegt werden.
Tatsächlich werden nur 0,02 Prozent der gesamten Gletscherfläche der Schweiz den Sommer über abgedeckt. Doch mit einem erstaunlichen Effekt, erklärt Glaziologe Matthias Huss von der technischen Hochschule ETH Zürich. Allein durch diese Abdeckungen sind jährlich 350.000 Kubikmeter Gletschereis vorerst erhalten geblieben.
Ein kleiner fast verschwundener Gletscher konnte sogar wiederbelebt werden. Das klingt gut, dennoch, sagt der Glaziologe nach eingehender Analyse, lohnt sich der Aufwand nur lokal begrenzt, etwa um Skipisten oder touristische Attraktionen zu sichern:
"Theoretisch funktioniert das Ganze, praktisch umsetzbar ist es meiner Ansicht nach aus Kostengründen, aber auch aus Umweltschutzgründen nicht. Denn solche künstlichen Eingriffe auf Gletschern, die ziehen natürlich sehr viele Probleme nach sich. Also man greift in die Natur ein, um sie zu schützen, und das ist irgendwo paradox."
Ganze Alpengletscher mithilfe von Vliesabdeckungen oder künstlicher Beschneiung zu sichern, sei weder realisierbar noch bezahlbar.
Matthias Huss zieht den Schluss: "Wir können die Gletscher ein Stück weit zumindest retten, aber eben nur mit globalen Maßnahmen, indem das Klima geschützt wird."
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