Blaueisgletscher in den Alpen

Bald sind sie weg

14:39 Minuten
Berchtesgadener Land: Blick auf die Alpen und Gletscher
In Bayern gibt es gerade mal noch fünf Gletscher. Die meisten nur ein paar Fußballfelder groß. © picture alliance / prisma / Hans Fürmann
Von Tobias Krone · 02.07.2021
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Die Gletscher in den bayerischen Alpen sind stark geschrumpft. Was bedeutet das für die Natur? Was für die Trinkwasserversorgung? Oder den Tourismus? Unser Reporter ist diesen Fragen bei einer Wanderung nachgegangen.
Die Zeiten ändern sich. Für die Leute vom Berg ist das ein Segen. Gelassen fährt Raphael Hang seinen schmalen Jeep über den steilen Forstweg vom Parkplatz beim Touristendörfchen Hintersee den Bergwald hinauf.
"Vor 20, 25 Jahren bin ich jeden Tag mit dem Pferd raufgegangen oder vorher mit dem Muli – aber von Ramsau aus, weil wir den Weg erst gebaut haben. Der ist noch nicht so lang. Das letzte Stück haben wir selber neu gebaut."
Mit 82 Jahren kann man schon mal ins Grübeln kommen. Raphael Hang hat dichtes weißes Haar, einen drahtigen Körper und ein braungebranntes Gesicht. Mit großer Sicherheit lenkt er den Jeep über den engen Fahrweg, der teilweise über schwindelerregende Felsvorsprünge hoch über dem Tal führt. An einem kleinen Wendeplatz ist Schluss.

Nur noch ein Viertel der ursprünglichen Fläche

Raphael Hang stellt den Jeep neben Bierfässern, Getränkekisten und einer kleinen Station der Materialseilbahn ab. Die letzten 300 Höhenmeter zur Blaueishütte geht es zu Fuß weiter. Mit Stöcken und großen Schritten kraxelt Hang die Stufen eines steinigen Pfades bergauf. Latschenkiefern unterhalb der Felswände spenden Schatten an diesem heißen Sommertag.
Der pensionierte Hüttenwirt will dem Journalisten und seiner Freundin den Gletscher zeigen, der sein Leben geprägt hat – oder das, was von ihm übriggeblieben ist:
"Aus historischen Aufzeichnungen weiß man, dass er zum Höhepunkt der so genannten Kleinen Eiszeit – ein Zeitraum von 1350 bis 1850, die kälteste Phase der Nacheiszeit – circa 25 Hektar hatte. Das war seine maximale Ausdehnung. Heute hat er noch fünf Hektar. Das heißt er hat noch ein Viertel seiner Fläche."

Gletschereis ist zäh wie Honig

Der Geograf Wilfried Hagg von der Hochschule München forscht zu den fünf letzten Gletschern der bayerischen Alpen. Er kann genau erklären kann, was einen Gletscher zu einem Gletscher macht:
"Gletschereis entsteht aus der Metamorphose, aus der Verdichtung von Schnee. Wenn das nicht mehr luftdurchlässig ist und eine bestimmte Dichte hat, dann ist es Gletschereis. Das Charakteristische ist, dass es sich ab einer gewissen Dicke durch den eigenen Druck und das eigene Gewicht langsam plastisch verformt und damit beweglich ist."
Ein Gletscher verformt sich also ohne, dass er schmilzt.
Da gibt es tatsächlich eine plastische Deformation – wie ein ganz zähflüssiger Honig. Dafür muss es eigentlich auch nicht schmelzen. Das funktioniert auch bei sehr kalten polaren Gletschern."

Der Schneefall reicht nicht mehr aus

Dieses faszinierende Naturphänomen wird immer seltener. Schneereiche Winter wie der vergangene reichen nicht aus, um die Gletscherschmelze aufzuhalten. Denn immer wärmere Sommer führen dazu, dass weltweit fast überall Gletscher schrumpfen.
In Bayern gibt es gerade nur noch fünf Gletscher, die meisten nur ein paar Fußballfelder groß: drei im Zugspitzgebiet, einen im Watzmann-Massiv bei Berchtesgaden und den Blaueisgletscher zwei Täler weiter.
"Beim Blaueis ist es so, dass er noch eine mittlere Mächtigkeit von fünf Metern, eine maximale von 17 Metern hat. Da sieht man tatsächlich noch, dass sich der obere Teil zumindest noch bewegt. Da gibt es Schichten, die zur Gletschermitte hin nach unten hin ausgebogen sind. Das zeigt uns, dass dort, wo er am dicksten ist, noch mehr Bewegung ist als am Rand."

Früher blieben die Kinder im Tal zurück

Nach einer halben Stunde schweißtreibenden Aufstiegs, den der Senior an unserer Seite ohne viel Schnaufen bewältigt, öffnet sich eine Karmulde vor uns, ein Talkessel: vor uns die Blaueishütte, ein Bau aus massiven Steinen, dahinter die zackigen Gipfel des Hochkalter und dazwischen im Schatten ein paar Flecken Weiß.
Raphael Hang deutet nach oben, wo das Geröllfeld an die Ausläufer des Schnees stößt. Dort stand früher die alte Hütte.
Im Winter kommt hier niemand rauf, zumindest nicht mit Verpflegung. Die alte Hütte hatte geschlossen, als die Lawine sie 1955 platt macht. Damals war noch Raphael Hangs Vater, der ebenfalls Raphael Hang hieß, Hüttenwirt. Er selbst bekommt als Kind zumindest im Sommer wenig von seinen Eltern mit.
"Kindheit – mei. Sagen wir mal, früher hat man ja von unten weggehen müssen. Von Ramsau. Da bin ich in der Schulzeit eigentlich unten gewesen, bei Freunden. Die Eltern sind ja oben gewesen und haben die Hütte bewirtschaftet. Ganz früher hat mein Vater mit der Kraxn alles selber getragen."
Bald wird es besser. Dann schafft sich der Vater Esel zum Tragen der Lebensmittel an, dann die Mulis, die auch der Sohn später Tag für Tag rauf und wieder runterführt. Heute führt sein Sohn die Hütte und transportiert das gastronomische Equipment mit dem Jeep und mit der Materialseilbahn.
Auch dessen Kinder dürfen oben bei ihren Eltern wohnen. Zur Schule werden sie mit dem Jeep nach unten gefahren und später wieder abgeholt.

Vertraut mit den Gletscherspalten

Den Gletscher und seine Spalten gab es damals noch: 30 Meter tiefe Risse im Gletscher. In den Ferien habe er in diesen Höhlen gespielt. War das nicht gefährlich?
"Für einen Kenner war das nicht gefährlich. Da waren die Spalten kein Problem. Die hat man halt teilweise umgehen müssen. Früher war es so, dass man über den Gletscher gefahrloser gehen konnte, weil man in denen Spaltenrändern sichern konnte. Da hat man sich hinstellen können und den Nachkommenden gesichert."
Das Eis gab an dieser Stelle guten Halt zum Stehen. Die Nachkommenden hatte man sicher am Seil. Anders heute bei dem Gletscher, der oft vor allem sehr glatt sei.
"Jetzt ist es so, dass der Gletscher steil ist. Wenn er blank ist, dann muss man zum Sichern entweder Schrauben drehen oder man geht allein und so sicher, dass man nicht runterfällt. Weil: Wenn man da herunterfällt, dann haut man unten in die Steine rein. Dann ist es vorbei."

Viele Unglücke in den Siebzigern und Achtzigern

An den 12. Oktober 1992, als an der steilen Randkluft ein Mann verunglückt, erinnert Raphael Hang sich noch genau. Von seiner Hütte aus hörte er Hilfeschreie aus dem Gletscher. Der lag im Nebel. Hang rief die Bergwacht.
"Ich bin gleich raufgegangen und habe die Erstversorgung gemacht, habe den von der Randkluft versorgt und teilweise rausgezogen. Dann ist die Bergwacht gekommen und dann haben wir den abtransportiert."
Zwei von der Bergwacht hätten dann aber noch das Rettungsseil oben wieder losmachen wollen.
"Ich habe gesagt: Lasst das Seil hängen. Ich hole das morgen. Nein, das wollten sie nicht. Dann haben sie das Seil weg, und das Seil ist runtergerannt. Der Lenzi und der Hillebrand Peter sind runtergegangen, und der Peter ist irgendwo gestolpert und runter – und unten in die Steine rein. Er hat noch gelebt, aber er ist dann gestorben. Das war damals der Bereitschaftsleiter von der Bergwacht Ramsau, war ein guter Mensch."
Nachdenklich fährt sein Blick über das Weiß in der Steilwand – und über die scharfkantigen Felsbrocken, die so einige Menschen auf dem Gewissen haben.
"In den Siebziger- und Achtzigerjahren sind viele abgestürzt. Der Gletscher war damals noch größer als jetzt. Und, mei, da war es halt so, wenn einer ausgerutscht ist und wenn der nächste ihn nicht hat halten können, dann ist er runtergegangen. Dann ist es halt Pech. Ja, da sind viele abgestürzt. Ich habe nicht genau die Zahlen im Kopf, aber da gab es jedes Jahr bestimmt zehn Verletzte oder Tote."

Der Gletscher erstrahlt in schmutzigem Weiß

Während Raphael Hang in die Hütte verschwindet – auf einen Kaffee bei der Familie –, machen wir uns auf, um höher zu steigen. Vorbei am alten Gemäuer der alten Blaueishütte und über spitze Kalksteine.
Auf 2000 Metern, dort, wo das Eis verschwindet, kommen Geröllhalden zum Vorschein und teilweise meterhohe Felsbrocken. Ab und zu macht sich ein Murmeltier durch Pfeifen bemerkbar.
Der untere Teil des Eisfeldes ist kein Gletscher mehr, sondern so genanntes Toteis. Hier bewegt sich nichts mehr.
Dann wird es steil. Wir ziehen uns an Stahlseilen und Steinkanten nach oben, bis wir einen guten Ausblick haben – über die Kargrube und die höheren Teile des Gletschers. Wir folgen dem Tipp des Gletscherforschers in München:
"Wenn man den von unten anschaut, dann täuscht es ein bisschen. Da sieht er so verkürzt aus. Von oben sieht man erst, dass er noch ein bisschen länger ist, als er von unten wirkt. Das Interessante dort sind eigentlich diese Schichtbänder, die quer drüber gehen. Das sind Jahresschichten. Dass die in der Mitte nach unten ausgebogen sind, ist ein Beweis dafür, dass da noch Bewegung drin ist."
Zumindest die Größe lässt sich von oben abschätzen. Blau erscheint hier aber nichts – noch liegen bis zu vier Meter Schnee vom Winter auf dem Eis. Statt Blau erstrahlt der Gletscher in schmutzigem Weiß.

Die Bedeutung des Gletscherwassers

Wäre es eigentlich schlimm, wenn dieser letzte Rest noch verschwindet? Hier nicht, sagt Wilfried Hagg, weil es in den Alpen auch im Sommer viel mehr Regenwasser als Gletscherwasser gebe.
"In Passau zum Beispiel ist das Gletscherwasser auch im Inn nicht so entscheidend. Es kann in sehr heißen, trockenen Phasen immer noch wichtig sein. Aber übers Jahr gesehen ist der Anteil gering. In anderen Regionen der Erde ist das anders. Wenn die Gebirge von sehr trockenen Vorländern umgeben sind, wie das in Zentralasien häufig der Fall ist, wo die Flüsse in Steppen oder Wüstengebiete entwässern, ist das Schmelzwasser der Gletscher oft tatsächlich das einzige Wasser, das man zur Hauptvegetationsperiode und damit zum Bewässern der Felder zur Verfügung hat. Da hat das eine immense wirtschaftliche Bedeutung und ist eine Voraussetzung für die Nahrungsmittelproduktion."
Der ohnehin fast verschwundene Aralsee zwischen Kasachstan und Usbekistan speist sich zu 80 Prozent aus Gletscherwasser. Doch auch hier oben auf dem Blaueiskar sind sie auf das Wasser angewiesen. Zwei Quellen versorgt der Gletscher hier oben – und diese teilweise auch die Wasserversorgung der Hütte.
Auch der ehemalige Hüttenwirt Raphael Hang findet es schade, dass das Blaueis sich gerade verabschiedet: "Jeder Bergsteiger möchte mal über einen Gletscher gehen. Aber wenn es so kommt, dann kann man nichts ändern – dann ist es halt so.

Die Städter zieht es zu den Gletschern

Den Gletscher wollen sie hier seit gut 100 Jahren sehen, doch interessanterweise handelt es sich dabei gerade um Ausflügler und Touristen aus den Metropolen, "hauptsächlich Leute aus den Städten. Die Einheimischen sind in früherer Zeit nicht viel in die Berge gegangen. Die haben ihre Arbeit gehabt, und das hat gereicht. Am Sonntag haben sie gerastet."
Am Abend auf der Sonnenterrasse der Hütte kann man nach dem Abendessen einigen von den Leuten aus den Städten beim Bier begegnen. Etwa den drei Freunden Michael, Thorsten und Christian, alle Mitte 30, aus der Gegend um Braunschweig. Sie sind eigens wegen des Gletschers hergekommen.
Am nächsten Morgen ist der Gletscher zunächst verschwunden – eine dichter Nebel hüllt die Hütte ein.
Robsi und Gini, beide lange Haare und Funktionsklamotten, kommen vom Frühstück im Gastraum und stecken nun ihre Köpfe in eine Wanderkarte. Für zwei Tage sind sie hier hochgekommen, vor allem zum Felsklettern. Der Junior-Wirt ist auch ausgebildeter Bergführer und hat solide Sicherungshaken in die Felswände gebohrt – gleich neben der Hütte. Gut, um Anfängerkurse des Alpenvereins hochzulocken, die sich hier mehrere Tage in Halbpension einnisten.
Auch Gini und Robsi wollen sich hier ausprobieren, allerdings auf Touren, "die nicht allzu schwierig sind." Vor allem auch der gute Kuchen lockt sie hierher. "Der Gletscher ist bei uns eher nebensächlich."
So wäre die Familie Hang auch für die nächste Generation gerüstet. Es würden genügend Menschen auf die Blaueishütte heraufkommen – auch wenn das Eis in ein, zwei Jahrzehnten wohl ganz Geschichte sein wird.
(huc)
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