Klettern statt Zappeln

Von Anja Schrum |
Bei immer mehr Kindern und Jugendlichen diagnostizieren Ärzte das sogenannte Zappelphilipp-Syndrom. Zwischen 2006 und 2011 stieg die Zahl der Diagnosen um 42 Prozent. Therapiert wird häufig mit Medikamenten. Aber es gibt auch andere Ansätze – Kletter-Unterricht ist einer davon.
„Heute bin ich zehn, gab voll viel Stress in der Schule, weil ich einem Typen ein Mäppchen aus dem Fenster geworfen hab, weil der mich so aggressiv gemacht hat, weil er die ganze Zeit mit dem Stuhl gegen mein Stuhl gekippelt hat und da konnte ich nicht arbeiten.“

Raphael hat den Zeiger der selbstgebastelten Stimmungs-Uhr auf Dunkelrot gedreht. Der 10-Jährige rutscht unruhig auf seinem Stuhl umher, fingert an einem Kletterhaken herum. Nur wer den sogenannten Achter-Haken in den Händen hält, darf reden. Die anderen sollen zuhören:

„Wenn ich total unter Stress stehe, dann werde ich so aggressiv, hardcore, dann werde ich so hyperaktiv, ich kann mich eigentlich gar nicht steuern.“

Katharina Prünte schiebt Achter und Stimmungsuhr zu Jason. Auch der 9-Jährige ist genervt von der Schule. Leon dagegen hat sich schon wieder beruhigt. Der 11-Jährige schiebt den Zeiger auf 5. Ausgeglichen. Alle drei Jungs haben ADHS. Und alle drei klettern, einmal die Woche, anderthalb Stunden, in einer Therapie-Gruppe. Ergo-und Klettertherapeutin Katharina Prünte verteilt ein paar Übungszettel.

„Und dafür machen wir erst mal eine ganz kurze Übung bevor wir an die Wand gehen.“

Raphael: „Ich will aber klettern!“

Katharina Prünte: „Ja, kommt…“

Die Therapeutin ignoriert die Zwischenrufe. Erklärt geduldig, was zu tun ist: Die Kinder sollen auf einem Zettel Zahlen suchen, die sie ihnen diktiert.

Planvolles Handeln – überlegen, ordnen, Schritt für Schritt arbeiten – das findet sich in jeder Übung der Therapiestunde wieder. Ob am Tisch oder an der Kletterwand:

„Und das ist auch unser nächstes Boulder-Spiel. Ihr werdet eine kleine Geschichte bekommen an der Boulder-Wand und die sollt ihr dann sortieren. Das ist eine Klassenfahrt, da muss der Lehrer bestimmte Aufgaben lösen…“

Die Jungs stürzen vorbei am Popcorn-Automaten Richtung Kinder-Kletter-Bereich. In dem grau-blau gestrichenen Raum hängen Sicherungseile von der sechs Meter hohen Decke. An die Wände sind Kletter-Tritte und Griffe in den unterschiedlichsten Farben geschraubt. An einen hängt Katharina Prünte ein Beutelchen mit Papierstreifen:

„Diese Sachen, die er erledigen muss, die sind hier in dieser Tüte drin und ihr bouldert bitte von da, dem roten Griff, immer bis dahin und holt euch eins raus und sortiert es dann…“

Raphael macht den Anfang. Er klettert nicht nach oben, sondern kraxelt seitwärts, etwa einen Meter über dem Boden. Klettertrainer Behrang steht dicht hinter dem 10-Jährigen:

„Raphael, ganz in Ruhe…“
Raphael: „Ja,ja, der macht das. Ich kann nicht weiter, das ist viel zu schwer für mich…“

Raphael sucht hektisch nach den passenden Tritten und Griffen, will schon aufgeben. Behrang gibt ihm ein paar Tipps. Schließlich schafft Raphael den schwierigen Abschnitt:

Katharina Prünte: „Super, gut überwunden die Stelle…“

Seid sieben Jahren klettert Katharina Prünte mit Kindern, die an ADHS, an Autismus oder an Wahrnehmungs-Störungen leiden. Klettern motiviert auch Kinder, die schon viele Therapien hinter sich haben, sagt sie. Und anschließend können sich viele Kinder besser konzentrieren, sind ausdauernder:

„Da ist es wirklich so, dass die beim Klettern lernen: Okay, erst sind es zwei Meter, beim nächsten Mal sind es drei Meter und beim fünften Mal klettere ich schon bis an die Decke und dieses Erfolgserlebnis, das schleift sich so ein, das wird so verinnerlicht, dass sie das dann auch in den Alltag übertragen, dann meist erst auf andere Sportgruppen und dann eben auch auf die Schule.“

In der großen Kletterhalle ziehen sich die Wände mehr als 16 Meter in die Höhe. Leon rennt sofort zu einer freihängenden Leiter aus dünnen Metallstreben, bindet sich ein. Katharina Prünte beobachtet unauffällig, nickt und sagt: „Dabei müssen sie sich konzentrieren, da gibt es keinen Kompromiss.“
Behrang: „Alles klar: Auf geht's… Schön machst du das! Gut so!“

Oben, im Bistro der Kletterhalle, sitzt Leons Mutter und beobachtet, wie ihr Sohn langsam die wackelige Leiter hinauf klettert:

„Ich bin total begeistert! Parallel mit diesen Kletterstunden hat er Schwimmen gelernt, der hat sein Seepferdchen geschafft, steht kurz vorm Bronze. Parallel zum Kletterkurs fängt er an Skateboard zu fahren, haben wir vor einem Jahr auch schon mal ausprobiert, war unmöglich. Also, er fängt jetzt an, seinen Körper zu entdecken, seinem Körper zu vertrauen, auch mal festzustellen, dass der Körper was kann, – vorher war das ganz weit weg.“

Die Kinderärztin hatte den Tipp mit dem Klettern gegeben, erzählt Leons Mutter. Die Therapie müssen die Eltern allerdings selbst zahlen. Weil die Stunden nicht in Praxisräumen, sondern in einer privaten Kletterhalle stattfinden. Nach dem Klettern ist Leon richtig ausgepowert, ruhig, entspannt, findet seine Mutter. Er kommt dann mit weniger Medikamenten aus. Und auch sein Sozialverhalten ändert sich langsam:

„Der kriegt Verantwortungsgefühl – und das merkt man eben auch im Alltag. Ich kann ihn eben jetzt mit seiner fünfjährigen Schwester zum Brötchenkaufen schicken. Das hätte ich mich vor einem Jahr noch nicht getraut.“

Die dunkelhaarige Frau blickt lächelnd hinüber zur Artistik-Leiter in der Kletterhalle. Auf Leon, der bis unters Dach geklettert ist. Und jetzt ein Zeichen gibt und sich abseilen lässt.

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