Klaus Johannes Thies: "Aus meinem Fenster"

Was ein Parkplatz zu erzählen hat

Cover des Buchs "Aus meinem Fenster. Parkplatz-Rhapsodien vor der Luftaufnahme eines Parkplatzes
Cover des Buchs "Aus meinem Fenster. Parkplatz-Rhapsodien" © imago / allOver-MEV
Von Peter Martin Becker · 21.11.2018
Über Jahre beobachtet der Erzähler in Klaus Johannes Thies' Buch den Parkplatz vor seinem Fenster: Automodelle, Werbeplakate, Menschen. Es geht aber auch um die Angst vor dem Sterben oder feuilletonistische Betrachtungen. Ein spannendes und sinnliches Spektakel.
Wieder steht er am Küchenfenster. Wieder blickt er hinaus. Da gibt es zwei Werbetafeln, eine vielbefahrene Straße mit Ampeln – und natürlich einen Parkplatz: "Was zuallererst auffällt, ist der Überhang an blauen Fahrzeugen. Von 24 Fahrzeugen, die sich zurzeit auf dem Parkplatz aufhalten, sind mindestens zehn in irgendeiner Weise blau."
Der Erzähler kann dem Blick auf die asphaltierte Stellfläche nicht widerstehen, von 2005 bis 2018 reichen Klaus Johannes Thies' "Parkplatz-Rhapsodien", die erst durch einen Umzug enden. Wir erfahren nicht viel von diesem Typen, der da am Fenster steht und schaut. Er hat eine Frau, mit der er schon lange zusammen ist, er macht Urlaube, er denkt wehmütig an seinen Vater – vor allem aber beobachtet er wie besessen den Parkplatz, der zum Protagonisten der Handlung wird: "So ein Parkplatz in Deutschland hat schon was. Das ist nicht einfach so ein Parkplatz. Sieht so rein aus und so ehrlich, wie drinnen in der guten Stube."

Sog beim Lesen

Die verschiedenen Jahreszeiten, die unterschiedlichen Automodelle, die wechselnden Plakate auf der Werbefläche – kein Detail, keine Veränderung entgeht dem Beobachter. Auch die Menschen werden in geradezu voyeuristischem Ausmaß beschrieben. Natürlich hat man anfangs Befürchtungen: Ein Großstadtparkplatz und seine Nutzer, ist das nicht eher ein Projekt, das als Idee nett klingt, auf der Langstrecke eines Buchs aber scheitern muss?
Das Gegenteil ist der Fall. Die Kapitel, die mit Titeln wie "Auto sein ist heute ziemlich anstrengend" oder "Der Mann, der aus dem Fenster filmte" versehen sind, erzeugen einen Sog beim Lesen, als hätte man einen Krimi vor sich: Der Autor Klaus Johannes Thies, Jahrgang 1950, hat schon mit seinem vorherigen Buch "Unsichtbare Übungen" bewiesen, dass er Prosaminiaturen schreiben kann, die leicht und elegant zugleich sind – und mitreißend noch dazu.

Wundersames Panoptikum

Eng und ortsgebunden wirken die "Parkplatz-Rhapsodien" jedenfalls nur im ersten Moment: Der Erzähler holt sich die ganze Welt heran, während er am Küchenfenster steht. Die Angst vor dem Sterben beschäftigt ihn ebenso wie ein neu aufgetauchtes Foto von Cézanne, fiktive Spekulationen über das Beziehungsleben der Passanten auf dem Parkplatz wechseln sich ab mit feuilletonistischen Betrachtungen. So widmet sich ein Kapitel dem französischen Schriftsteller Georges Perec, der tagelang einen Platz in Paris beobachtete und beschrieb. "Perec tut immer etwas, womit man nicht rechnet", resümiert der Erzähler – und formuliert so zugleich sein eigenes literarisches Programm.
"Aus meinem Fenster" ist nicht nur inhaltlich ein wundersames Panoptikum an Miniaturen, das Buch selbst ist ein gestalterisches Kunstwerk: Wieder mal beweist die "edition AZUR" mit diesem fein ausgestatteten Band, der unter anderem zwei Fotostrecken enthält, wie kunstvoll Literatur aufgemacht sein kann. So wird aus einem alltäglichen und grauen Ort ein geradezu sinnliches Spektakel: Man möchte erst aufhören, wenn auch das letzte Auto den Parkplatz verlassen hat.

Klaus Johannes Thies: Aus meinem Fenster. Parkplatz-Rhapsodien
edition AZUR, Dresden 2018
92 Seiten, 18,90 Euro

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