Klassiker neu gelesen

"Onkel Toms Hütte": Plädoyer gegen die Sklaverei

06:27 Minuten
Von Katharina Borchardt  · 24.11.2020
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Wie ergeht es uns wenn wir Klassiker wie „Onkel Toms Hütte“ wieder lesen? Als das Buch 1852 erschien, wurde es ein Bestseller. Mit der Hauptfigur habe die Autorin eine Art schwarzen Christus geschaffen, findet Literaturkritikerin Katharina Borchardt.
Sollte man so einen Roman überhaupt noch lesen? Einen Roman, in dem Schwarze verkauft und versklavt werden? In dem ihnen wiederholt ein kindliches Gemüt und ein Hang zu Glitzerkram unterstellt wird? Einen Roman schließlich, in dem der titelgebende Tom selbst dann noch freundlich bleibt, als er von seinem letzten Besitzer in Louisiana totgeschlagen wird?

Letzte Übersetzung über 50 Jahre alt

Harter Stoff. Weshalb die deutsche Übersetzung von "Onkel Toms Hütte" von Harriet Beecher-Stowe (1811-1896) sicherlich auch schon lange keine Auffrischung mehr erfahren hat. Der Roman mit dem berühmten Titel, der in Berlin sogar die Benennung eines Gasthauses und dann der nächstgelegenen U-Bahn-Haltestelle inspirierte, wurde 1952 zum letzten Mal ins Deutsche übertragen.
Seither hat sich kein Verlag mehr an dieses Werk getraut – wohlwissend, dass es schwierig werden würde, einen Roman, in dem auf fast jeder Seite die Worte "Neger" oder "Nigger" fallen, in eine Fassung zu bringen, die heutigen Leserinnen und Lesern erträglich wäre.
Spontane Abscheu ist also sehr verständlich, sollte aber nicht die einzige Reaktion auf "Onkel Toms Hütte" sein. Im Gegenteil: Der Roman ist eine genaue Lektüre mehr als wert – und zwar nicht nur, weil er bei Erscheinen 1852 als Anti-Sklaverei-Roman der allerschärfsten Sorte gelesen wurde, schnell ein Bestseller wurde und den Abolitionisten im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) moralische Schützenhilfe leistete. Sondern auch, weil Harriet Beecher-Stowe extrem scharfzüngig erzählen kann.

Zwei Erzählstränge

Alles beginnt damit, dass der treue Sklave Onkel Tom verschachert wird. Sein langjähriger Besitzer in Kentucky steckt in finanziellen Nöten. Mit Onkel Tom muss er seinen besten Mann verkaufen und mit der jungen Eliza auch die farbige Gesellschafterin seiner Frau. Da Tom sich fügt, Eliza aber flieht, teilt sich der Roman recht bald in zwei Erzählstränge: der eine ein Sozialdrama, der andere eine Abenteuergeschichte. Tom wird in den Süden verkauft, gerät dort zunächst in eine wohlmeinende Familie, wird dann aber an einen Menschenschinder weiterverkauft, der ihn am Ende tötet.
Eliza flieht derweil mit Mann und Sohn in Richtung Kanada, wo es keine Sklaverei gibt und sie in Sicherheit sind. Dabei werden sie unterstützt von der "Underground Railroad", einem Netzwerk von Helfern, die flüchtige Sklaven meist durch Ohio in Richtung Kanada schleusten und damit das grässliche "Fugitive Slave Law" unterliefen, das seit 1850 die Rückführung von Flüchtlingen in den Süden verlangte.
Man lernt also einiges in diesem Roman, in dem sich gedankenscharfe Debatten über die Sklaverei – etwa im Hause von Toms durchaus kritisch denkendem neuen Besitzer – und rasante Fluchtkapitel abwechseln. Harriet Beecher-Stowe zeigt darin großes Erzählgeschick, bevor sie beide Erzähllinien am Ende wieder zusammenführt.

Breitseite gegen die Kirche

Als flammendes Plädoyer gegen die Sklaverei ist dieser Roman auch eine kräftige Breitseite gegen die Kirche, die in jenen Jahren gerne die Rechtmäßigkeit der Sklaverei predigte. Diese literarische Attacke war für Harriet Beecher-Stowe keine kleine Sache, denn sie stammte selbst aus einer Predigerfamilie, und auch ihr Ehemann war Theologe. In ihrem Roman zeigt sie sich als Meisterin bigotter Dialoge und kleiner parodistischer Szenen.
Hochkomisch ist zum Beispiel die Sonntagspredigt zum Thema "moralische Prinzipien", die der humoristisch veranlagte Sklavenjunge Sam hauchend nachahmt. Beecher-Stowe kann auf Jane-Austen-hafte Weise maliziös sein. Beste angelsächsische Erzähltradition!
Besonders scharfzüngig zeichnet sie die Charaktere des weißen Romanpersonals: migränegeplagte Großgrundbesitzerinnen, dem Untergang geweihte Lebemänner, sittenstrenge Jungfern, schlitzohrige Quäker und viele andere mehr. Das ist die Welt, die die Autorin selbst gut kannte.

Klischeehafte Figuren

Mit Schwarzen aber hatte die Nordstaatlerin wenig Umgang, und so umreißt sie die Charaktere ihrer schwarzen Figuren leider nur recht grob. Sie sind fast durchweg sympathisch gezeichnet und mit allerlei klischeehaften Attributen ausgestattet. In diesen Passagen hängt der Roman ordentlich durch.
Insbesondere die dümmlich wirkende Engelsgeduld des Onkel Tom wurde Beecher-Stowe oft vorgeworfen. Viele Leserinnen und Leser erfuhren ihn als passiv und unterwürfig, weshalb devot auftretende Schwarze in den USA bis heute als Onkel Toms bezeichnet werden. Diese Interpretation der Tom-Figur ist nicht falsch, greift allerdings viel zu kurz. Eigentlich ist er ein Licht, das in diesem Roman sehr still, aber auch gänzlich unbeirrbar leuchtet.
Für Beecher-Stowe ist Tom, der bezeichnenderweise ausschließlich das Neue Testament rezitiert, eine Christus-Figur, die sie mit dem Besten ausstattet, was ihr als gläubiger Christin zu Gebote stand. Das mag uns heute in unseren glaubensfernen Zeiten fremd vorkommen, sollte aber als allerbeste Absicht der Autorin anerkannt werden.
Gleichzeitig wird Beecher-Stowe gewusst und bestimmt auch intendiert haben, dass Toms Tod – im Brecht’schen Sinne – Bestürzung und Widerstand hervorrufen wird. Tom muss ja nicht selbst wütend sein, um Wut hervorzurufen. Im Gegenteil: Dieser Roman bietet keine literarische Ersatzbefriedigung. Er nimmt uns die Denkarbeit nicht ab, und er fordert eine Reaktion.

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