Klassentreffen

Zwischen Wehmut, Nostalgie und Neustart

Fünf junge Leute sitzen auf einem Tisch. Die mittleren drei gucken nach links.
Streber, Sportler, Außenseiterin, Prinzessin oder Freak: Im Kultfilm "The Breakfast Club" reflektieren die Teenager ihre jeweilige Rolle in der Schule, während sie nachsitzen müssen. © picture alliance / Mary Evans / AF Archive / Universal
Auf Klassentreffen machen wir eine Zeitreise zurück in die Schulzeit, die einerseits wohlige Nostalgiegefühle auslösen und andererseits alte Wunden aufreißen kann. Gleichzeitig bietet so ein Wiedersehen oft neue Perspektiven auf das eigene Leben.
Irgendwann liegt plötzlich die E-Mail mit der Einladung im Postfach: Klassentreffen in der alten Heimat. Schon beim Lesen kommen die ersten Gefühle hoch, gefolgt von Gedanken wie: „Wer wohl alles kommt?“ oder: „Gut, dass ich bis dahin noch ein paar Kilo abnehmen kann!“
Klassentreffen. Das Wort klingt eigentlich so harmlos. Doch die Emotionen, die beim Wiedersehen mit unseren ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschülern aufkommen können, sind nicht zu unterschätzen. So kann die Begegnung mit der Verletzlichkeit in der eigenen Jugend erschüttern und gleichzeitig eine große Chance sein.

Zeitreise zurück in die Jugend

Ist der Klassenclown auch heute noch so witzig? Sieht die Queen von damals immer noch so gut aus? Und was ist eigentlich aus dem Lehrer geworden, der immer seinen Schlüsselbund nach uns geworfen hat, wenn wir zu laut waren? Fragen, die man sich im Alltag nur selten stellt, tauchen angesichts eines Klassentreffens plötzlich geballt auf. Die eigene Neugier zu befriedigen, ist also schon einmal ein gutes Argument, zum Treffen zu gehen.
Ist man dann erst einmal dort, kommen im Gespräch mit den ehemaligen Mitschülern noch ganz andere Erinnerungen hoch: an die erste Schuldisco, den Auftritt mit der Theater-AG, die Oberstufenfahrt nach Italien. Eine Mitschülerin packt alte Fotos aus, man lacht gemeinsam über die Frisuren und die Klamotten, die man trug. Man redet über die Songs von damals, den Gestank im Chemiesaal. Man riecht ihn wieder. Die Zeitreise beginnt, Nostalgie stellt sich ein.
Das ist der Punkt, der für die einen schön und für die anderen der blanke Horror sein kann. Denn in kaum einer Zeit im Leben empfinden wir so viel wie in der Pubertät. Wer zum Beispiel in seiner Jugend gemobbt wurde, wer damals verzweifelt war, verbindet ganz andere Gefühle mit seiner Schulzeit als jemand, der diese Phase genießen konnte.
Die Jugend sei „eine sehr intensive, aber auch sehr verletzliche Zeit", sagt Diplom-Psychologin Anne Otto. "Man vergleicht sich, man sucht seine Identität noch viel mehr im Spiegel der anderen. Wenn man dorthin zurückgeht, geht man wieder in diese Phase dieser Vergleiche, dieser Verletzlichkeit.“ Viele Menschen wollen das offensichtlich nicht: 47 Prozent der Menschen in Deutschland waren laut einer YouGov-Umfrage noch nie auf einem Klassentreffen. Und sie haben sicher jede Menge gute Gründe dafür.

Und was machst du so?

Beim Klassentreffen mustert man zunächst seine alten Bekannten: Wie sehen Christian und Aylin inzwischen aus? Gleichzeitig spiegeln wir uns selbst im Blick der anderen. „Warum schaut die mich so kritisch an? Schockt sie der Haarausfall?“ Schon die äußerlichen Faktoren spielen eine große Rolle. Noch unangenehmer wird es nach dem ersten Geplänkel, wenn die unvermeidbare Frage kommt: „Und was machst du so?“ Irgendwann erzählt man dann vom Job, von den Kindern, vielleicht auch von der Trennung.
Es heißt, man sollte sich nicht mit anderen vergleichen. Aber es ist einfach menschlich, das zu tun. „Der Mensch lebt auch immer wieder dadurch, dass er sich mit anderen vergleicht“, sagt der Diplompsychologe und ehemalige Leiter der Berliner Telefonseelsorge, Jürgen Hesse. Darauf kommen Menschen nur auf sehr unterschiedliche Art und Weise klar.

Der Blick auf sich selbst

Den Direktvergleich mit dem ehemaligen Mitschüler kann der eine oder andere vielleicht noch abschütteln: „Der Idiot! ‚Mein Auto, meine Kinder, mein Boot‘… lächerlich!“ Doch dem kritischen Blick des eigenen, jüngeren Ichs entkommt man nicht. Im Film „L’Auberge Espagnole“ gibt es eine Szene, in der der Protagonist nach seinem ersten Tag in einem knochentrockenen Job ein Kinderfoto von sich betrachtet. Dazu hört man die Stimme seines jungen Ichs: „Ich will Bücher schreiben.“ Er entscheidet sich dazu, den neuen Job an den Nagel zu hängen.
Durch das Wiedersehen mit Menschen, die uns in unserer Kindheit und Jugend jahrelang begleitet haben, werden wir dazu gezwungen, Bilanz zu ziehen: Ja, was mache ich denn eigentlich so? Bin ich denn der Mensch, der ich einmal werden wollte? Und wenn nicht, ist es in Ordnung so, wie es kam, oder nicht? Die Frage kann einem den Schlaf rauben, sie kann aber auch eine Chance sein: zur Neukalibrierung, zum Abschließen, vielleicht auch zu einem Neustart.
„Es ist eine Chance, sich zu versöhnen. Es ist auch nochmal eine Chance, sich auszutauschen und insoweit denke ich, je nachdem, wie robust man ist, wie stark man sich auch weiterentwickelt hat und dabei auch an Stärke gewonnen hat, eine Sache, auf die man sich unbedingt einlassen sollte, die einen bereichern kann“, so Jürgen Hesse.

Erinnerung auf die Probe gestellt

Ähnlich verhält es sich mit den Erinnerungen an bestimmte Gefühle und Momente in der Schulzeit. War XY damals wirklich so enttäuscht, dass wir nicht mehr miteinander abhingen? Ein Klassentreffen bietet die Gelegenheit des Abgleichs der eigenen Erinnerung mit der Erinnerung der anderen. Dabei können die Ergebnisse sehr überraschen und es öffnen sich neue Perspektiven auf die eigene Vergangenheit.
Die Perspektive derjenigen, die in der Schule gemobbt wurden, kann dazu einladen, über das eigene Verhalten zu reflektieren. Nur trauen sich diese Menschen nur selten zu Klassentreffen – sei es aus Angst davor, dass alte Wunden aufgerissen werden oder dass alles wieder von vorne losgeht. Dabei bietet ein Klassentreffen die Chance darauf, dass alte Konflikte bereinigt werden, dass man verzeiht oder sich entschuldigt.

Alte Muster, neue Chancen

Es passiert schnell, dass man bei einem Klassentreffen in alte Rollenmuster zurückfällt. Der Klasseclown reißt wieder Witze, die ehemalige Klassenschönheit wird wieder umgarnt, der Angeber macht einen auf dicke Hose. „Das gehört zum sozialen Leben dazu“, sagt die Psychologin und Moderatorin Urooba Aslam. Gerade durch Erinnerungen und unverarbeitete Gefühle könne man überraschend in seine alte Rolle zurückgeworfen werden.
Viel spannender wäre es ja eigentlich, dem zu widerstehen und sich auch mit Leuten zu unterhalten, mit denen man früher wenig zu tun hatte. Und wenn der blöde Spruch auf der Zunge liegt, ihn diesmal runterzuschlucken und stattdessen aufmerksam dem Gegenüber zuzuhören. So kann ein Klassentreffen die Chance auf einen Neubeginn sein.

Soll ich’s wirklich machen oder lass‘ ich’s lieber sein?

Die renommierte Schweizer Psychologin, Psychotherapeutin und Autorin Julia Onken Julia Onken hat das Buch „Klassentreffen. Einladung in die unaufgeräumte Vergangenheit“ geschrieben. Sie selbst nimmt regelmäßig an Klassentreffen teil und schwärmt von der Vertrautheit, von der man nach vielen Jahren gerade im Alter profitiert: „Wir haben gemeinsam bestimmte Erlebnisse erlitten oder durchgemacht, und das verbindet. Man fühlt sich aufgehoben, so wie in einem alten Baumbestand, der so gewachsen ist und der einen auch beschützen kann.“
Für sie sind Klassentreffen eine Fundgrube, sich selbst zu finden und sich selbst zu verstehen. Daher rät sie: „Unbedingt hingehen, und wenn aber zu große Widerstände da sind, dann sich fragen, warum, und unter Umständen mit jemandem darüber sprechen.“ So habe ein Klassentreffen auch indirekt einen Sinn. Denn man hat verstanden: Da gibt es wohl noch etwas nachzuarbeiten.

Philipp Jedicke
Mehr zu Klassentreffen