Klangkunst

Eine Harfe mit Stacheldraht-Saiten

Von den Neubauten zu Musik vertont - der Erste Weltkrieg
Von den Neubauten zu Musik vertont - der Erste Weltkrieg © picture alliance / dpa
Von Martin Risel · 07.11.2014
Archaische Tanzstücke, O-Töne von Kriegsgefangenen: Die Berliner Experimentalband Einstürzende Neubauten setzt mit ihren neuen Album "Lament" den Ersten Weltkrieg in Klangkunst um.
Lament ist sowas wie ein Klagegesang, aber auch der Titel des neuen Projekts der Einstürzenden Neubauten. Kein herkömmliches Album der Berliner Experimental-Band, sondern ein Werk zum 1. Weltkrieg, fast schon ein musikalisch-pazifisches Manifest. Unter der Federführung von Blixa Bargeld ist ein sehr ambitioniertes Projekt entstanden mit authentischen historischen Stimmen aus dem Laut-Archiv der Berliner Humboldt-Uni, mit Bearbeitungen von Tucholsky, Marlene Dietrich, Dadaisten sowie belg. Komponisten …. Denn das Ganze ist eine Auftragskomposition für die Region Flandern, wo morgen auch die Uraufführung als Start einer umfangreichen Europa-Tournee stattfinden wird.
"Achtung, wir hören jetzt den Beginn des Weltkrieges 1914!"
"The 28. of July 1914: Austria, Serbia, Germany, Russia: Tannenberg …"
Und so geht es weiter, von Tannenberg zur nächsten Schlacht, zum Eintritt der nächsten Nation in den großen Krieg. Die Einstürzenden Neubauten haben sich mit "Lament" viel vorgenommen, schon in dieser komplexen Komposition.
"'Der 1. Weltkrieg (Percussion Version)' ist ein 13-minütiges Stück, in dem jede Macht, die am 1. Weltkrieg teilnimmt, durch ein Rohr – also 18 verschieden lange Rohre, die spielen Viervierteltakt 120 beats per minute – und es ist komplett ausgerechnet, wann sie in den Krieg eintreten und wann sie austreten. Und jeder Taktschlag repräsentiert einen Tag. Und da drüber sind noch die ganzen wichtigsten Schlachten von Frauen eingesprochen."
Darf man tanzen zur Intonation des Krieges?
Neubauten-Kopf Blixa Bargeld selbst gibt hier den Erzähler, im ganzen Projekt den Texter und oft den Komponisten und Arrangeur. Und hat den Kopf voll mit so viel Erklärungen und Hintergrundwissen zu jeder einzelnen Note, dass er sich der Wirkung des wuchtigen Werkes vielleicht noch gar nicht ganz bewusst ist. Dieses Stück zum Beispiel klingt wie ein archaisches Tanzstück – aber darf man zur Intonation des Ersten Weltkrieges tanzen?
"Und dann fängt man natürlich an, sich dazu 'n bisschen zu bewegen, und dann wird's irgendwie zynisch, ja. Aber ich glaube, der Zynismus geht auch den Leuten nicht … den werden sie schon bemerken."
Was nicht immer so einfach ist, angesichts der zahlreichen Deutungsmöglichkeiten. Aber 'Lament' ist eben auch nicht gedacht für den reinen Höreindruck.
"Es ist geschrieben für die Bühne. Und es fehlt natürlich beim Anhören das visuelle Element. Also der ganze Anfang zum Beispiel – Kriegsmaschinerie – da wird auf der Bühne ein Koloss, ein Leviathan aus unseren größten Versatzteilen zusammengebaut. Und das akustische Beimaterial ist dabei eigentlich eher nebensächlich."
Vorlage: das Gleichnis vom verlorenen Sohn
Typisch Neubauten-Krach mag man da denken, aber solche Sounds sind hierbei eher nicht typisch. 'Lament' ist eben nicht einfach ein weiteres Studioalbum der Berliner Noise-Kunst-Combo. Auch wenn zum Teil mit ähnlichen Mitteln der Verfremdung gearbeitet wird.
"Die Tatsache, dass also vier teilnehmende Nationen die selbe Nationalhymne mit einem anderen Text haben, ist also doch im gewissen Sinne etwas erstaunlich. Und: Dass man dafür ins Gefängnis kommt, wenn man ihn belustigend umdichtet."
"Dann geht es über in eine Motette eines flämischen Komponisten, der in Diksmuide, was die Stadt unserer Auftragsgeber ist, begraben liegt: eine achtstimmige Komposition basierend auf dem Gleichnis des verlorenen Sohns. Und wie der Zufall so spielte: Es gibt die mit dem Edisonographen aufgenommenen und erzeugten Wachszylinder, da sind Aufzeichnungen von Kriegsgefangenen aus preußischen Kriegsgefangenenlagern drauf.“
Und die sprechen ebenfalls dieses Gleichnis vom verlorenen Sohn. Sehr frühe Tonaufnahmen, ein seltener Schatz aus dem Lautarchiv der Berliner Humboldt-Universität. Zusammengesetzt mit der Motette des flämischen Komponisten Jacobus Clemens non Papa das Herzstück von 'Lament':
Die Stimmen der Kriegsgefangenen sind kaum zu verstehen – natürlich sind die fast 100 Jahre alten Aufnahmen von bescheidener Tonqualität, dazu gesprochen in vielen verschiedenen, auch seltenen europäischen Sprachen. Werden da nicht Kriegsopfer als Klangkulisse missbraucht?
"Wenn man sieht, wie wir das spielen: Das sind so kleine Kubus-Lautsprecher, die man in der Hand halten kann. Und dann kann man sich dem Mikrofon nähern und die Stimme frei lassen und dann die Stimme wieder verschließen. Aber man sieht die Vorsicht, mit dem das Material da behandelt wird."
Zumindest wird sich das dann auf der Bühne hoffentlich so vermitteln. Ein einfaches Unterfangen ist es jedenfalls nicht, "Lament" mit seinen vielschichtigen Bedeutungsebenen zu durchdringen.
Warum wird das jetzt erst veröffentlicht? Das mag sich mancher fragen, der in diesem Jahr von der Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges schon genug hat.
Ein musikalisches Monument
"Als man uns damit beauftragte, war klar, dass 2014 das große Jubiläumsjahr sein wird und dass zu dem Zeitpunkt, wenn wir das aufführen werden, schon jede Menge plattgetrampelt ist. Deswegen war die ganze Vorarbeit wirklich darauf ausgerichtet, möglichst ein paar Sachen zu finden, die noch nicht allzu bekannt sind."
Die Einstürzenden Neubauten haben mithilfe von Historikern und Linguisten, Archiven und Museen, Streichorchester und den eigenen Fähigkeiten als Klangforscher und Soundästhetiker ein musikalisches Monument geschaffen. Beim Hören allein scheint manches fragwürdig und über-ambitioniert. Und wird sich dann auf der Bühne beweisen müssen.
Zu den Neu-Entdeckungen gehört zum Beispiel der flämische Dada-Dichter Paul van den Broeck, vertont mit einer Harfe – deren Saiten bestehen aus Stacheldraht.
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