Erster Weltkrieg

Kriegsgefangene bauten Kirche

Die Heilandskapelle in Frankfurt (Oder) (Brandenburg)
Die Heilandskapelle in Frankfurt/Oder © picture alliance / ZB / Patrick Pleul
Von Gunnar Lammert-Türk · 26.10.2014
Eine Kirche, ganz aus Holz und mit Schnitzereien geschmückt, wie aus einem russischen Märchenfilm. Die Kirche ist das einzige, was noch an das Kriegsgefangenenlager erinnert, das hier einmal bestanden hat – für Offiziere und Soldaten der zaristischen Armee.
Rolf Haak: "Hier sollten Nachschubeinrichtungen gestaltet werden, die dann auf schnellstem Wege wieder nach Osten verlagert werden konnten. Aber da man so schnell Kriegsgefangene und so viele gemacht hatte, sah man sich genötigt, so schnell wie möglich ein Kriegsgefangenenlager in der Nähe einzurichten und dafür eignete sich Frankfurt/Oder-Gronenfelde, also unsere Ecke hier, gut."
Rolf Haak ist in dieser Ecke groß geworden. Hier im Nordwesten von Frankfurt an der Oder, wo sich heute eine Einfamilienhaussiedlung befindet, wurde ab Spätsommer 1914 ein Kriegsgefangenenlager für etwa 23.000 Insassen aufgebaut. Von russischen Kriegsgefangenen unter deutscher Anleitung. Es waren die in den Masuren besiegten Offiziere und Soldaten der zaristischen Armee.
Vom einstigen Lager ist nur ein hölzerner Bau mit einem Turm an seiner Eingangsfront übrig geblieben, in sibirischer Blockbauweise errichtet. Die russischen Handwerker unter den Gefangenen haben hier ihr Geschick bewiesen und den Bau in der Tradition ihrer Heimat geschmückt: mit Zierleisten an Fenstern und Giebeln und zahlreichen Schnitzereien. Auch die Bänke im Inneren sind etwas eigenwillig gestaltet, wie Rüdiger Hund-Göschel, Vorsitzender des Fördervereins zum Erhalt des Baus, erläutert:
"Die Bänke haben die Besonderheit, dass sie keine Rückenlehne haben, das hatte eine funktionelle Aufgabe. Die Heilandskapelle wurde als Lesehalle, auch als Kulturraum und als Kirche genutzt. Und es bestand die Möglichkeit bei kulturellen Veranstaltungen, den westlichen Bereich, also im hinteren Bereich bestand eine kleine Bühne, und diese kleine Bühne wurde dann genutzt und man konnte sich umgedreht auf die Bänke setzen, also nicht mit Blick zum Altar, sondern mit Blick zu dieser Bühne, so dass also die Bänke quasi zwei Funktionen hatten. Sowohl in die Ost- als auch in die Westrichtung konnten sie genutzt werden."
Kirche mit Bibliothek
Bei Theateraufführungen, Konzerten oder Chorauftritten, für die auch die Sängerempore über der kleinen Bühne im Westen genutzt wurde, saßen die Gefangenen mit der deutschen Wachmannschaft zusammen. Der Altar im Osten war dann mit einem Vorhang verhüllt.
Das war auch dann der Fall, wenn die Gefangenen sich in die Bücher der Lagerbibliothek vertieften und der Raum zur Lesehalle wurde. Seitlich der Bühne standen Regale mit dem Lesestoff, der den Gefangenen vor der Bühne ausgehändigt wurde.
"Vor mir liegt ein Ausgabezettel für Bücher in der Lesehalle, russisch geschrieben, geht es um erstens ein Buch, Knigu, und die Nummer dahinter, dann musste der Familienname, also Familia eingetragen werden und danach der Vorname, also Imja, dann das Kommando, also in welcher Baracke derjenige, der ein Buch ausgeliehen hatte, wohnte und dann kommt das Datum, also in unserem Fall hier: 29.2.1916. Und das hat jeder bei sich getragen, und wenn er ein Buch ausleihen wollte, hat er die Karte vorgezeigt und hat dann entsprechend ein Buch erhalten. Für uns sehr interessant ein Stempel, da drüber steht: Gefangenenlager Russenbibliothek Frankfurt/Oder."
Für Unterhaltung sorgte auch ein aus russischen Gefangenen gebildetes, 40 Mann starkes Orchester. Daneben konnten die Insassen in zahlreichen Werkstätten ihren Berufen nachgehen. Freilich wurden sie auch außerhalb des Lagers eingesetzt: in der Landwirtschaft, beim Bahn- und Straßenbau. Sie wurden dafür bezahlt und konnten sich mit dem Geld in den Geschäften des Lagers versorgen oder es mit Zinsvergütung in die Lagersparkasse einzahlen.
Jüdische Kriegsgefangene durften auch beten
Auch ihren religiösen und seelsorgerlichen Bedürfnissen wurde entsprochen. Es gab Gottesdienste in der ihnen vertrauten Sprache und Religion. Sowohl in der Lagerkirche als auch Freiluftgottesdienste. Entsprechende Geistliche standen zum Gespräch zur Verfügung.
Rüdiger Hund-Göschel: "Die Mehrzahl der Insassen des Kriegsgefangenenlagers mit etwa 90 Prozent waren orthodoxen Glaubens und wurden durch einen Popen, ebenfalls kriegsgefangenen Popen aus dem Kriegsgefangenenlager Küstrin betreut. Desweiteren waren auch jüdische Kriegsgefangene hier, wenn auch in kleinerer Zahl. Die wurden 1915 durch den Rabbiner aus Frankfurt/Oder Dr. Solominski und ab 1917 durch den Rabbiner aus Landsberg, dem heutigen Gorzo, den Rabbiner Dr. Elsaß betreut."
Die wenigen inhaftierten Polen, die in der russischen Armee dienten, durften in Begleitung von Wachpersonal die Messe in der katholischen Kirche von Frankfurt besuchen. So erfuhren die Kriegsgefangenen in Gronenfelde, auch wenn sie die Zwangsgemeinschaft des Lagers ertragen mussten, doch eine recht humane Behandlung. Sie stand in scharfem Kontrast zu den Schrecken auf den Schlachtfeldern. Ganz zu schweigen zu den Umständen im Zweiten Weltkrieg, in dem russische Kriegsgefangene entweder gleich erschossen oder durch brutalen Arbeitseinsatz und Mangelernährung ermordet wurden.
Unvorstellbar auch, dass deportierte Juden im NS-Deutschland in einem Lager hätten Gottesdienste feiern können, wie es die jüdischen Soldaten der zaristischen Armee im Westen der Lagerkirche in einem kleinen Raum tun durften. Nach der Rückkehr der Soldaten in ihre Heimat kamen 1920 Deutsche aus vormalig deutschen Gebieten, die nun zu Polen gehörten, in das Lager. Anstelle der Baracken errichteten sie Häuser für ihre Familien, restaurierten die schon verfallene Kirche und gaben ihr den Namen "Heilandskapelle". So heißt sie bis heute. Dennoch wird sie weiter gern "Russenkirche" genannt. Denn nach wie vor erinnert der liebevoll verzierte Holzbau an seine unfreiwilligen Erbauer, die russischen Kriegsgefangenen von damals.
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