Kinokolumne Top Five

Utopie, Dystopie, Pandemie

Im Filmstill aus "It Comes At Night" halten zwei Personen mit Gasmasken Waffen in den Händen.
In Trey Edward Shults' "It Comes At Night" hat ein Virus weltweit Menschen und Tiere befallen. © Universum Film
Von Hartwig Tegeler · 01.08.2020
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Welche Seite bringt die Corona-Pandemie in uns hervor? Nur die schlechten? Oder auch die guten? Unser Kritiker empfiehlt diese fünf Filme für großes Kino in Ausnahmezeiten. Sie alle erzählen vom menschlichen Verhalten in der Pandemie-Krise.

Platz 5 - "Die Stadt der Blinden" von Fernando Meirelles (2008)

Auslöser für diese Epidemie. Ein Virus? Unklar. Fakt ist, dass Menschen plötzlich blind werden. Als Maßnahme gegen eine Ansteckung werden die Blinden in einer leeren psychiatrischen Anstalt interniert, die sie nun nicht mehr – unter Androhung, erschossen zu werden – verlassen dürfen. Unter ihnen die Ehefrau des erblindeten Arztes, gespielt von Julianne Moore, die als einzige sieht. Das Leben in der Anstalt wird zum Horrortrip. Der Mensch wird dem Menschen ein Wolf – eine dystopische Sicht auf den gesellschaftlichen Zustand, wenn sich die zivilisierte Ordnung auflöst. Am Ende werden die Blinden wieder sehen können. Aber was vorher geschah, während der Epidemie, steckt tief in den Knochen. Dieses "gute" Ende taugt nicht zum Happyend.

Platz 4 - "Children of Men" von Alfonso Cuarón (2006)

Nicht minder düster wie Kollege Meirelles beschreibt Cuarón eine Welt, in der – aufgrund eines Virus? -, seit 18 Jahren kein Mensch mehr geboren wurde. Großbritannien ist Polizeistaat geworden, Gewalt und Chaos herrschen; Migranten werden in Lager gesperrt. Dann taucht Kee auf, eine junge, illegale Flüchtlingsfrau – schwanger! Ein Wunder? Clive Owen als depressiver Regierungsangestellter versucht Kee aus dieser zusammengebrochenen Welt zu retten. Eindrucksvolles Bild: Ein Waffenstillstand zwischen Armee und Aufständischen kommt für einen Moment zustande, weil die Kämpfenden das Baby sehen. Staunen über das Wunder des Lebens - als kurze Pause in der Apokalypse. Pessimistischer ist ein Blick über eine "verseuchte Welt" kaum vorstellbar.

Platz 3 - "28 Days Later" von Danny Boyle (2002)

Die Story über den Zusammenbruch der Gesellschaft ist typisch für das Genre des apokalyptischen Viren-Thrillers. Doch Danny Boyle gelingen dazu Bilder über das vom Virus entleerte Land, die sich verstörend einprägen. Wie Jim, der Fahrradkurier, der 28 Tage nach seinem Unfall ganz allein im ausgestorbenen London erwacht und nur noch die Reste der Zivilisation sieht - Möbel, Autos, Abfälle. Und überall die Berge von Toten. Später wird sich zeigen, dass die vermeintlich sicheren Orte, an denen Jim und seine neuen Gefährten auf Zuflucht hoffen, nur Spielwiesen für durchgeknallte Militärs sind, die die alte Macht und Willkür auch in der Ausnahmesituation der Pandemie zelebrieren. Nein, der Viren-Thriller hat mit einem Feel-Good-Movie gar nichts zu tun. Denn er reißt uns alle Masken ab.

Platz 2 - "It Comes at Night" von Trey Edward Shults (2017)

Ein Virus hat weltweit Menschen wie Tiere befallen. Paul, Sarah, ihr Sohn Travis und der Großvater Bud leben tief verborgen im Wald. Versuchen nach strengen Regeln zu überleben. Das Entsetzliche, der eigentliche Horror, den Trey Edward Shults beschreibt, liegt in der Gnadenlosigkeit, zu der die Nichtinfizierten fähig werden. Wenn die Familie den Großvater in den Wald fährt, um ihn zu erschießen und dann zu verbrennen, ist das in der Logik der Infektions-Prävention stringent. Doch die Überlebenden, das zeigt "It Comes at Night" in einer brutalen Klarheit, zerstören sich damit selbst.

Platz 1 - "Maggie" von Henry Hobson (2015)

Wird das Handeln des Menschen in der Pandemie egozentrisch oder solidarisch, gar emphatisch sein? Das Virus-Infektions-Genre, der Zombie-Film, beantwortet diese Fragen pessimistisch, denn die Zombies der letzten Jahre sind leidensfähige, empfindsame Wesen, die Opfer einer Virusinfektion wurden. So auch die Tochter des mürrischen Farmers, den Arnold Schwarzenegger in "Maggie" spielt. Verzweifelt muss der zuschauen, wie seine infizierte Tochter, vom Rest der Welt ausgegrenzt als Monster, vor der Verwandlung in eine Untote steht.
"Ich kann nicht, ich kann einfach nicht mehr. Verstehst du. Bitte, Dad! - Ist gut, Kleines!"
Eine herzzerreißende Szene am Ende von "Maggie", die sich unwillkürlich mit den Erfahrungen und Ängsten unserer aktuellen Lebenserfahrung vermischt. Der Farmer, der Vater in "Maggie", bewahrt übrigens durch das Mitleiden bis zum Ende seiner infizierten Tochter seine Menschlichkeit. Ein utopischer Moment in ansonsten dystopischen Genre.
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