Abhängigkeit im Alter

Die eigenen Kinder sind kein Pflegepersonal!

Eine Illustration zeigt eine Frau, die einen älteren Mann in einem Bollerwagen hinter sich herzieht.
Am Ende des Lebens ziehen die Eltern das Gehorsamkeitsgebot wieder aus der Tasche, beobachtet Kerstin Hensel. © imago / fStop Images / Malte Müller
Ein Kommentar von Kerstin Hensel · 24.01.2022
Früher waren die Eltern längst verstorben, wenn man aufs Rentenalter zuging. Heute finden sich oft Alt und Uralt in Familienstrukturen wieder, die nicht dafür gemacht sind. Kind sein begründet keine Pflegeverträge, meint Schriftstellerin Kerstin Hensel.
Es ist bekannt, dass das Leben im hohen Alter, wo Körper, Geist und mitunter auch das Bankkonto sich mehr oder weniger schnell der Auflösung anheimgeben, keine Idylle ist. Niemals.

Dennoch behaupten Pflege-, Pharma-, Seelsorge- und Ratgeberbranche, dass unser modernes Wohlstandsvolk dem gefürchteten Zustand seniler Hilfsbedürftigkeit Paroli bieten kann. Beistandsbotschafter aller Couleur geben kund, dass Altern etwas Wunderbares sein kann, ja sogar „heilbar ist“, wenn man nur die richtige Lebenseinstellung, funktionierende Körperersatzteile, ausreichend Medikamente sowie eine hingebungsvolle Familie besitzt.

Die Geburt ist keine lebenslange Schuldverschreibung

Mit „Familie“ sind insbesondere die erwachsenen Kinder gemeint, vor allem Töchter oder Schwiegertöchter, die seit Generationen demütig Fürsorge und Pflegepflichten übernehmen. Ein Leitbild, das heute zwar hinterfragt wird, doch oft noch die Verhaltensmuster vieler 80plus-Senioren bestimmt.

Nicht nur die romantische Wiederbelebung bürgerlicher Familienstrukturen vergangener Epochen wird favorisiert, auch das Vierte Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ gilt als sittlicher Schutzschild, um die Furcht vor Hinfälligkeit mit übergeordnetem Dekret in die Familienschranken zu weisen.

Nun ist unsere anspruchsvolle Arbeits- und Lebenswelt eine andere geworden. Viele Menschen werden heute so alt wie nie einer ihrer Vorfahren geworden ist. Die Herausforderungen der Betreuung sind komplex und weder mit staatlichen Innovationen noch mit Appellen an samariterhafte Hinwendung der Kinder zu ihren Eltern gänzlich zu lösen.
Doch als sei es selbstverständlich, dass eine Familie stets eine im ewigen Einvernehmen funktionierende Angehörigen-Gemeinschaft sei, tönt die alte Leier: "Du hast deinen Eltern dein Leben zu verdanken. Sie haben alles für dich getan, jetzt gibst du ihnen alles zurück."

Das Verhältnis ist oft unharmonisch - aus Gründen

Nein, sagen viele um die Sechzig, deren Verhältnis zum hochbetagten Vater und/oder zur Mutter alles andere als harmonisch ist. Nein, sie wollen und können nichts zurückgeben, jedenfalls nicht, wenn sie dazu gezwungen werden. Sofort schreien von Selbstlosigkeit beseelte Menschen auf: Wie egoistisch! Kaltherzig! Verantwortungslos!

Die Distanz zur Dankbarkeit hat Gründe. Diese sind fast immer in der Erziehung verortet. Da gab es leibliche, emotionale und intellektuelle Vernachlässigung; da gab es Ignoranz, Verachtung, Gewalt, autoritäre Unterwerfung.
Lange, nachdem sich die Kinder vom Elternhaus entfernt und ein eigenes, anderes Leben aufgebaut haben, ziehen die alten Herrschaften am Ende das Gehorsamkeitsgebot wieder aus der Tasche. Räumliche, gar körperliche Nähe wird eingefordert. Es wird geschimpft, gedroht, geweint, misstraut, beleidigt, erpresst, gejammert, kontrolliert, verboten, bestraft, enterbt, Geschwister gegeneinander ausgespielt und um Mitleid gefleht.

Distanzwünsche sind nicht unmoralisch

Natürlich gibt es Familien, wo alles nach Plan läuft. Kinder, die, wenn sie selbst in Rente gehen, wie selbstverständlich wieder bei ihren Eltern einziehen oder sie zu sich holen, um sich, mitunter bis zur Selbstaufgabe, um sie kümmern. Diese Kinder hatten meistens ihr Leben lang ähnliche Ansichten und Interessen wie ihre Eltern, und Familie gilt auch ihnen als oberste Priorität.

Die jedoch auf Distanz dazu gehen, schwanken angesichts der hilflosen Alten zwischen Mitleid und Verachtung, zwischen Disziplin und Befreiungswunsch. Sie ahnen deren Ängste und Einsamkeit und sehen in ihnen jenes Arsenal der Gebrechen, das auch sie bald erwartet. 

Vom Tier unterscheidet uns die Fähigkeit der Empathie und dass wir Kranke und Schwache aus der Gemeinschaft nicht ausstoßen. Doch sollen wir unseren Eltern ein Leben lang für unsere Existenz dankbar sein?
Keiner ist je gefragt worden, ob er auf die Welt kommen will. Eltern sind verpflichtet, ihren Nachwuchs großzuziehen, damit dieser ein eigenständiges Leben führen bzw. eine eigene Familie gründen kann. Der Umkehrschluss gilt nicht. Auch ist Blut nicht immer dicker als Wasser. In Freundschaften finden wir mitunter mehr Verlässlichkeit und Heimat als im Sippenethos.

Kerstin Hensel, Jahrgang 1961, ist Professorin für Poetik an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Sie hat zahlreiche Gedichte, Romane und Essays geschrieben. Im März 2020 erschien ihre Novelle „Regenbeins Farben“.

Die Schriftstellerin Kerstin Hensel
© dpa / picture alliance / Jens Kalaene
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