Kettengedicht im Deutschlandfunk Kultur

Wie funktioniert gemeinsames Schreiben im Internet?

Screenshot vom Etherpad: Die Lyriker Ulf Stolterfoht, Franz Josef Czernin und Monika Rinck nutzen eine Software, um gemeinsam ein Gedicht zu verfassen.
Die Lyriker Ulf Stolterfoht, Franz Josef Czernin und Monika Rinck nutzen eine Software, um gemeinsam ein Gedicht zu verfassen. © Deutschlandradio / Screenshot Etherpad
Von Cara Wuchold · 03.08.2017
Zusammen zu dichten ist keine Erfindung des Computerzeitalters. Doch es gibt Softwares, die das gemeinsame Schreiben erleichtern. Die Lyriker Ulf Stolterfoht, Franz Josef Czernin und Monika Rinck schaffen gerade ein solches Werk kollaborativer Poesie im Deutschlandfunk Kultur - und die Leser können live dabei sein.
Im Deutschlandfunk Kultur passiert im Moment Ungewöhnliches: Im Rahmen des Lyriksommers können wir den Lyrikern Ulf Stolterfoht und Franz Josef Czernin sowie der Lyrikerin Monika Rinck bei ihrer Arbeit zuschauen. Sie schreiben gemeinsam ein Kettengedicht. Nun ist kollaboratives Schreiben natürlich keine Erfindung des Computerzeitalters. Allerdings gibt es Softwares, die das gemeinsame Dichten erleichtern.
Im Fall des Lyriksommer-Kettengedichts ist das eine Software namens Etherpad: "Ether" steht für "Äther" und "Pad", übersetzt Block, für das Dokument, in dem gearbeitet wird. Im Prinzip ist das ein Live-Texteditor, in dem man ohne jegliche Anmeldung an einem gemeinsamen Dokument arbeiten kann. Die Beteiligten müssen nicht an einem Ort sein, und können trotzdem zusammen Dichten – und zwar wirklich in Echtzeit, das heißt, wenn jemand schreibt, ist das unmittelbar auf dem Bildschirm des anderen zu sehen.

Making-of eines Gedichts verfolgen

Das Besondere: Der gesamte Arbeitsprozess ist öffentlich. Öffentlich insofern, als dass das Gedicht für die Hörer und User den gesamten August lang auf der Webseite von Deutschlandfunk Kultur zu sehen ist. Und genau das ist auch der Zeitraum, in dem das Gedicht entsteht. Somit kann man als User sozusagen live dabei sein.
Und das beeinflusst vielleicht sogar den Schreibprozess. Denn jeder Tastaturanschlag, jeder Vertipper wird festgehalten. Es gibt eine Funktion beim Etherpad, die nennt sich Timeslider, und wenn man diesen Button anklickt, dann läuft der schon entstandene Text quasi wie ein Film vor unserem Auge ab. Das ist gerade im Hinblick auf die Lyrik spannend, wo um jeden Buchstaben, um jedes Wort gerungen wird. Das Werk ist also gleichzeitig ein Making-of, in dem auch das Rohe, das Unfertige, das Vorläufige eine besondere Rolle spielt.

Erweiterte Möglichkeiten des Dichtens

Es gibt ein literarisches Genre, dem eine solche Lyrik zugeordnet werden kann: die sogenannte Digitale Poesie. Das ist nicht einfach nur digitalisierte Literatur, sondern Literatur, die der digitalen Medien als Existenzgrundlage bedarf. Und das Kettengedicht von Rinck, Stolterfoht und Czernin erfüllt auch ein wichtiges Kriterium vieler Werke Digitaler Poesie: die Interaktivität. Denn in diesem Fall kommunizieren mehrere Menschen mithilfe einer Software, und nutzen die Möglichkeiten digitaler Vernetzung.
Dabei muss man dieses Genre gar nicht in Stellung bringen gegen die analoge Poesie, es erweitert vielmehr die Möglichkeiten des Schreibens und Lesens. Und wer weiß: Vielleicht kommt das Kettengedicht von Ulf Stolterfoht, Franz Josef Czernin und Monika Rinck am Ende ja sogar als Buch heraus.
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