Kerstin Preiwuß über

"Anküssen"

Kerstin Preiwuß über "Anküssen"
Kerstin Preiwuß © dpa
13.12.2018
Neulich ist mir ein Wort begegnet, über das ich sprechen muss. Jemand sagte öffentlich: "Wenn mich in der Nachbarschaft ein Neger anküsst oder anhustet, dann muss ich wissen, ist er krank oder ist er nicht krank."
Ich meine jetzt nicht das Wort "Neger", das einen sofort aufschrecken lässt, ich meine das kleine Wort "anküsst". Eigentlich ein schönes Wort, vorausgesetzt man geht vom Küssen aus. Hier aber steht es grammatisch wie syntaktisch in direktem Zusammenhang zu "anhusten".
"Anhusten" jedoch ist etwas, das man nicht tut, so bringt man es auch den Kindern bei. Denn: Hustet man jemanden an, dann steckt man ihn möglicherweise auch an.
Wir sehen also, was die kleine Vorsilbe "an" dem Küssen antut:
Küsst man sich, dann freiwillig und gern. Küsst man jemanden an, schadet man ihm. Aus einer Geste der Liebe wird eine Gefährdung anderer.
Eigentlich nicht vorstellbar, aber die Sprache lässt es zu und gibt zu denken, was eigentlich damit gemeint ist: Eine vage unvorhersehbare Bedrohung, die nur von einer Gruppe von Menschen ausgeht, den Geflüchteten. Geflüchtete halten sich nicht an die Grundregeln der Höflichkeit oder der Hygiene, husten und küssen plötzlich oder vorsätzlich alle an, die sich dem nicht widersetzen können, und machen sie krank.
"Anküssen" deutet dabei sogar die Möglichkeit von Zwang an und lässt den Geflüchteten in der Vorstellung männlich sein. Das Gefühl kommt auf, dass unsere Art zu lieben bedroht wird.
Mir geht das zu weit. Ich fühle mich ja selbst durch das Wort angegriffen und bleibe stattdessen viel lieber weiterhin mit Wladimir Majakowski beim Küssen, denn:
"Allmächtiger,
du dachtest zwei Hände aus
und versahst mit dem Kopf
des Leibes Gerüst –
warum machtest du nicht,
daß man ohne Graus
küßt, küßt, küßt?"
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