Kein Wirkstoff, große Wirkung

Von Thomas Wagner · 27.01.2013
Wenn Pillen ohne Wirkstoff Krankheiten heilen, allein durch die Kraft der Einbildung: In Tübingen suchen Wissenschaftler nach Wegen, wie sich der Placebo-Effekt produktiv nutzen lässt. Inzwischen haben Mediziner sogar schon Placebo-Operationen getestet - mit erstaunlichen Ergebnissen.
Wenn der Stuttgarter Medizinhistoriker Robert Jütte ein Medikament verschrieben bekommt, dann vermeidet er nach Möglichkeit eines: den Blick auf den Beipackzettel.

"Wegpacken! Das Merkwürdige ist doch, dass an sich diese Beipackzettel den Patienten schützen sollen vor Nebenwirkungen. Und genau das Gegenteil passiert: Es werden die Nebenwirkungen, die dort aufgeführt sind, zum Teil von den Patienten generiert. Also sie sind nicht eingebildet, sie sind wirklich da, sie lassen sich klinisch nachprüfen."

Dass viele Patienten nach Einnahme des Medikaments an genau den Nebenwirkungen leiden, die im Beipackzettel aufgeführt sind, bezeichnen die Wissenschaftler als so genannten "Nocebo-Effekt": Durch das Lesen wird das Unterbewusstsein aktiv - und lässt den Patienten genau an den Nebenwirkungen leiden, die in der Packungsbeilage aufgeführt sind. Das haben klinische Studien ergeben, in denen Tabletten ohne jeglichen Wirkstoff, aber mit Beipackzettel verabreicht wurden.

Solche Effekte lassen sich auch positiv nutzen; dann sprechen die Experten von "Placebo-Effekten". In der Regel handelt es sich dabei um das Abschwächen von Krankheitssymptomen durch das Einnehmen von Medikamenten ohne Wirkstoffe. Der Glaube des Patienten an die Wirkung reicht.

"Besonders gut funktioniert er bei Schmerzen, also bei allen mit Schmerzen assoziierten Erkrankungen. Das sind Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, es können auch Bauchschmerzen sein. Da haben wir relativ starke Placebo-Effekte in klinischen Studien. Die bewegen sich so bei 40 Prozent: 40 Prozent der Patienten reagieren mit Besserung","

erklärt Paul Enck, Professor für Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie an der Uni-Klinik Tübingen; Placebo-Studien sind sein Forschungsschwerpunkt. Dabei erhält ein Teil der Probanden das tatsächliche Medikament, der andere Teil aber nur ein genau gleich aussehendes Präparat ohne jeglichen Wirkstoff. Das überraschende Ergebnis: Knapp die Hälfte der Testpersonen, die das Placebo ohne Wirkstoff einnehmen, erfahren eine Besserung ihres Krankheitsbildes. Und solche Effekte beziehen sich nicht nur auf Medikamente. In Tübingen diskutierten die Experten über eine Studie aus den USA. Dabei ging es um Knieoperationen bei Patienten mit Gelenkschmerzen. Paul Enck:

""Es sind drei Gruppen von Patienten gebildet worden. Die einen haben eine Knieoperation bekommen nach den Regeln der Kunst. Das heißt: Öffnen des Knies, Spülung des Kniegelenkes und dann Verschluss wieder. Die zweite Gruppe hat das Gleiche bekommen plus eine Entfernung von Ablagen auf dem Knie. Und die dritte Gruppe - bei denen hat man das Kniegelenk geöffnet, die Haut angeritzt und wieder zugemacht."

Will heißen: Nur in der ersten und zweiten Gruppe haben die Chirurgen sich tatsächlich um das Kniegelenk gekümmert. In der dritten Gruppe blieb es beim Aufritzen der Haut und beim Vernähen der Wunde. Nach zwei Jahren wurden die Patienten wieder untersucht.

"Allen Gruppen, allen drei Gruppen ging es gleich gut. Auch die Scheinoperationen haben zu einer Besserung der Gelenkbeweglichkeit, der Schmerzen und anderer Beschwerden der Patienten geführt."

Doch welche Konsequenzen müssen die Mediziner aus diesem Ergebnis ziehen? Nur noch Scheinoperationen durchführen, die wesentlich weniger aufwendig wären? Das lehnen die Experten aus rechtlichen und medizinethischen Gründen ab. Und die Operation überhaupt nicht mehr anzubieten, weil kein Unterschied zwischen tatsächlicher und Scheinoperation zu finden war, ist auch keine Option – schließlich würde damit auch der Placebo-Effekt zunichte gemacht.

Über solche Fragen diskutieren die Fachleute immer noch ergebnisoffen; es komme auf den Einzelfall der jeweiligen Placebo-Behandlung an, heißt es. Das Forschungsfeld steckt ohnehin noch in den Kinderschuhen: Weltweit haben die Experten bislang gerade mal 2500 Fachstudien erarbeitet. Das ist relativ wenig vor dem Hintergrund, dass Mediziner schon seit Jahrhunderten mit Placebos arbeiten, weiß der Stuttgarter Medizinhistoriker Robert Jütte, Professor am Institut der Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung:

"Der Placebo-Effekt ist schon seit Menschengedenken bekannt. Also wir haben schon Zeugnisse aus dem 16. Jahrhundert. Der Name selbst kommt aber erst im 18. Jahrhundert auf. Seitdem wird der Begriff zunächst in England, dann aber auch später in anderen Ländern, in anderen Sprachen verwendet. Wir haben einige Zeugnisse, aus denen wir ersehen, wie diese Ärzte vor 200, 300 Jahren hervorragend Placebos eingesetzt haben."

Und Placebo-Effekte müssen nicht nur mit Pillen und Skalpellen zu tun haben. Weitere Studien belegen: Die Art und Weise, wie der Hausarzt mit den Patienten umgeht, kann ebenfalls einen Placebo-Effekt zur Folge haben. Konkret: Nach einer britischen Untersuchung kann ein so genannter 'empathischer Arzt' Erkältungserkrankungen im Durchschnitt einen Tag schneller zum Abklingen bringen als Ärzte, die sich nur wenig Zeit für ihre Patienten nehmen.

Medizinhistoriker Robert Jütte:

"Es ist die Empathie. Das heißt: Das Einfühlungsvermögen des Arztes in die Krankheitssituation des Patienten. Und das ist nicht lernbar und die hat auch viele nicht lernbare Komponenten. Alleine die Körpersprache ist da ganz wichtig. Und wenn ein Arzt diese Empathie hat, dann sind Heilungserfolge häufiger zu beobachten, als wenn es umgekehrt wäre."

Heilungserfolge, die sich ein Patient keineswegs nur einbildet. Und das trifft nach Ansicht des Tübinger Placebo-Forschers Paul Enck auch auf das weite Feld der Homöopathie zu: Er glaubt, dass die Wirksamkeit von homöopathischen Medikamenten einzig und alleine auf deren Placebo-Effekt beruht. Eine Abwertung der Homöopathie sieht er darin ausdrücklich nicht. Schließlich komme es auf die Linderung von Krankheitssymptomen an. Und die sei über den Placebo-Effekt auch gegeben. Patienten, so Paul Enck, bilden sich die Linderung ihrer Krankheitssymptome nach Einnahme eines Placebos nicht ein. Vielmehr lösen Placebo-Effekte tatsächlich biologische Prozesse aus, ähnlich wie die Wirkstoffe eines herkömmlichen Medikamentes.

"Das haben die Kollegen mit den neuen Technologien gezeigt, mit denen man Gehirnprozesse auch sichtbar machen kann, also 'Brain Imaging'-Technologien. Und da kann man zeigen, dass die Placebos, also Tabletten, die keinen Wirkstoff enthalten, im ZNS Dinge machen können, die einer Medikamentenwirkung ähnlich sind. Also sie stoßen im Prinzip die Ausschüttung beispielsweise der körpereigenen Schmerzhemmstoffe, Opiate, Endorphine sagen wir, an, die wieder eine Schmerzhemmung erzeugen. Das ist eine neurobiologische Komponente. Also nichts Eingebildetes, sondern ein biologischer Prozess."

So Paul Enck, Placebo-Forscher an der Universität Tübingen. Bislang waren die Fachleute davon ausgegangen, dass die Placebos nur dann wirken, wenn die Patienten tatsächlich an ein Medikament mit Wirkstoff glauben. Neuere Studien deuten darauf hin, dass Placebos selbst dann Krankheitssymptome zurückdrängen, wenn der Patient weiß, dass er ein Placebo statt eines wirkstoffhaltigen Medikaments geschluckt hat.

Medizinhistoriker und Placebo-Forscher Robert Jütte:

"Wir haben leider insgesamt nur drei Studien in der Literatur nachgewiesen, drei seit 50 Jahren, indem man mit kleinen Gruppen
getestet hat: Was passiert, wenn Patienten wissen, es ist ein Placebo! Wenn man denen auch genau erklärt: Das ist Zucker. Da ist nichts drin. Und trotzdem hat es in diesen Fällen besser gewirkt als in einer Wartegruppe, wo man nichts getan hat. Also irgendetwas passiert auch, wenn Patienten wissen, dass sie ein Placebo bekommen. Aber ob das immer funktioniert und wie das geht, da müssen wir noch forschen. Aber grundsätzlich scheint auch der Placebo-Effekt mit Aufklärung zu funktionieren."

Gleichwohl lehnen die Mediziner einen vollständigen Ersatz von Medikamenten durch Placebos ab; in Deutschland wäre dies auch gar nicht zulässig. Dennoch: Wie man den Placebo-Effekt produktiv nutzen kann, wird heiß diskutiert. Schließlich könnten dem Patienten unnötige Schmerzen, Nebenwirkungen und auch Kosten erspart werden. Zu überlegen wäre etwa, ob bei der täglichen Einnahme eines Medikamentes dieses nicht gelegentlich durch ein Placebo ersetzt werden könnte, meint Paul Enck von der Universität Tübingen:

"Wenn Sie stattdessen das Medikament am zweiten und am vierten Tag durch ein Placebo ersetzen, dann bauen Sie darauf, dass die Einnahme der Pille den gleichen biologischen Prozess auslöst. Sie würden dann einen gleichmäßigen Wirkspiegel sehen, obwohl Sie kein Medikament gegeben haben, weil der Patient nicht weiß, dass dies ein Placebo war."
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