Kein übliches Kunstbuch

Rezensiert von Josef Schmid · 30.12.2007
Irenäus Eibl-Eibesfeldt hat zusammen mit seiner Mitarbeiterin Christa Sütterlin ein imponierendes Werk mit dem Titel "Weltsprache Kunst" vorgelegt. Die Autoren illustrieren die Tiefe und Reichweite ihrer Wissenschaft vom Menschen überreich mit Kunstobjekten.
Auch wer den Wissenschaften fern steht, kennt die beiden Extreme von Wissenschaftlern: Da ist einmal der Lehnstuhl-Gelehrte, der aus den Reiseberichten anderer eine Welt im Kopf entwirft. Dann aber gibt es den Abenteurer-Forscher, dem schriftlich niedergelegte Theorie nicht genügt, der Berge und Höhlen besteigt, in Urwälder vordringt und das Anderssein von Menschengruppen unmittelbar auf sich wirken lässt.

Wer so ein abenteuerliches Forscherleben vorzuweisen hat, ist Irenäus Eibl-Eibesfeldt. Als junger Biologie-Dozent tauchte er mit Hans Hass zu den Haien hinab, um ihre Reaktionen auf Menschen, die ihnen unter Wasser begegnen, zu studieren. Die enge Zusammenarbeit mit dem Nobelpreisträger Konrad Lorenz führte ihn zum Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie, wo er ein auf diesem Wissenschaftszweig basierendes Kulturforschungsprogramm entwickelte. Eibl-Eibesfeldt begründete die Wissenschaft vom elementaren menschlichen Verhalten und nannte sie Humanethologie: Sie beschäftigt sich mit dem Zwischenreich von Natur und Kultur, das uns Laien nur halb bewusst ist: Lachen und Weinen, Freude und Angst sind Ausdruck menschlicher Überlebensanstrengungen, und wir finden sie je nach Raum und Zeit in bestimmter Ausprägung vor.

Eibl-Eibesfeldt hat uns nun ein Geschenk gemacht. Mit seiner Mitarbeiterin Christa Sütterlin, der aus Zürich stammenden Kunsthistorikerin und Philologin legte er ein umfangreiches und imponierendes Werk vor mit dem Titel "Weltsprache Kunst. Zur Natur- und Kunstgeschichte bildlicher Kommunikation". Der Untertitel will uns gleich sagen, dass die Phänomene menschlichen Verhaltens, die von Kulturen vorgeformt werden, aus sich heraus zur künstlerischen und bildlichen Darstellung drängen. Ein Sprichwort sagt: "Kunst kennt nur einen Herrn: das Bedürfnis danach". Und so beginnen wir zu verstehen, warum wir Kunst schätzen, brauchen, sammeln - und selbst auch produzieren. Die über 800 Abbildungen in diesem Werk sind uns von einer Seite her geordnet, die wir so nicht mehr wahrnehmen, weil sie von einer Lebensroutine aufgesogen und von uns nicht mehr bewusst erlebt wird. Vom Spielzeug afrikanischer Kinder, das Schrecken abweisen soll, bis zum Lächeln der Mona Lisa, von Nofretete bis zu Rafaels Madonna wird ein Zusammenhang von Einzelkultur und Menschheit wahrlich sichtbar, den herzustellen uns schon überfordern würde.

Doch die Autoren, beide Weltkenner von hohen Graden, machen uns darauf aufmerksam, dass es Menschheit und Zivilisation in der Einzahl, Kultur dagegen nur in der Mehrzahl gibt. Der Universalität der Schönen Künste entspricht die Tatsache, dass jedes Kunstwerk die Emanation eines seelischen Zustandes ist, der von einer der Kulturen vermittelt wird. Je mehr sich mit einem Kunstwerk identifizieren, umso mehr symbolisiert es das Selbstverständnis der Gruppe, der Kultur, die es hervorgebracht hat und nun eifersüchtig bewacht.

Die grenzüberschreitende Sprache der Kunst verweist wieder auf die gemeinsamen humanethologischen Wurzeln der Menschheit. Grenzüberschreitende Wertschätzung von Kunst weckt auch Begehrlichkeit. Kunstraub oder Raubkunst gibt es seit den Zeiten der Hochkulturen. Man könnte kühn behaupten, dass der Kunstraub den Menschen ebenso übers Tier erhebt wie Sprache und Sitte. Grenzüberschreitung setzt aber Grenze voraus. Räume ziehen Identität und Symbole auf sich und werden erst mit ihnen besetzt:

"Identitätsstiftende Symbole sowie solche, die der territorialen Abgrenzung und Markierung dienen, finden wir bereits in den frühen menschlichen Hochkulturen. [...] Zwei Aspekte dieser frühen Formen sind dabei wichtig. [...] Zum einen die Markierung von Gebietsgrenzen mit mehr oder minder deutlicher Schutzfunktion, zum andern die Funktion, Zentrum eines Kultes im Innern eines bestimmten Gebietes zu sein."

Soziale Biologie, eben Humanethologie, befasst sich mit der Kulturfähigkeit des Menschen; zu ihr gehören einige Grunderkenntnisse: einmal die Gewissheit, dass die Menschheit 99 Prozent ihrer Entwicklung auf einer niedrigen Daseinsstufe verbracht hat. Wir tragen sie als archaische Erbschaft noch in uns wie Geschlechterverhältnis und Rollen. Es ist kaum denkbar, dass man in wenigen Jahrzehnten aus einer vier Millionen Jahre alten Fahrrinne springen könne.

Wir tun also gut daran, unsere gemeinsame Gattungsgeschichte nicht zu vergessen und sie durch einen bunten Strauß von Einzelkulturen durchscheinen zu lassen. Es ist ein Erlebnis, in diesem großen Buch vorgeführt zu bekommen, wie ein genialer Höhlenmaler der Vorzeit über den gleichen sicheren Strich verfügt wie ein Picasso, wie berühmte Gemälde der Neuzeit archaische Erbschaft speichern, wie uns afrikanische und ozeanische Kunst berührt, in der sich Dämonenglauben und Spiel mit Material und Geist eigenartig widerspiegeln, - wie asiatische und präkolumbianische Kunst zur Sensation geworden sind.

Nun die andere Erkenntnis: Die Menschheit konnte nur entstehen, weil sie sich in überschaubare Gruppen teilte und so den Herausforderungen der Umwelt in gruppenbezogenen Überlebensprogrammen begegnen konnte. Es sind die eigentlichen "Kulturen". Der Übergang zur Massengesellschaft, zum Großstadtleben, muss ein Trauma verursacht haben, das der Mensch seit 10.000 Jahren nicht ganz bewältigt hat. Denn er hängt am Wunsch, einem eigenen Raum anzugehören und bei bekannten Gesichtern Schutz und Hilfe zu finden. Dieses Prinzip heißt "Territorialität". So hat die Moderne ein Vertrauensproblem, das die Urgesellschaft noch nicht kannte.

Das brachte Eibl-Eibesfeldt - 20 Jahre ist es schon her - in Gegensatz zum Modewort von der multikulturellen Gesellschaft, die sich aus progressivem Übermut und Überschätzung einer noch jungen Menschheitsphase unlösbare Konflikte auflädt.

In einem klugen Epilog streifen die Autoren nochmals das Faktum, dass örtlich entstehende Kunst zu universeller Bedeutung gelangt, zu einer Menschheitssprache wird. Durch einzelkulturelle Hervorbringung scheint das den Menschen Gemeinsame hindurch und begründet Magie und Faszination der Kunst:

"Wir sprachen ferner von Universalien im Motivschatz und Symbolgebrauch des Menschen. [...] In allen Mythen und Märchen der Welt kehren ähnliche Motive wieder - so persistent wie Händeabklatsche, Gesichter und Augenmotive auf den Höhlen und Felswänden dieser Erde. Auch dies verstehen wir als verbindendes Erbe: eine Brücke zum Verständnis der Völker. Die Zeichnungen aus den Höhlen von Chauvet und Lascaux bedürfen ebenso wenig der Übersetzung für anderssprachige Kulturen wie die Tempelfiguren der Khmer von Angkor Wat für westliche Besucher. Es geht um Kampf und Krieg, Jagd und Liebe, Glück und Verlust, Kinder und Tod - und diese formale Codierung eines Kunstwerks verstehen wir immer."

Die Autoren haben kein übliches Kunstbuch vorgelegt, sondern sich einer spannenderen Aufgabe gestellt, nämlich die Tiefe und Reichweite ihrer Wissenschaft vom Menschen mit Kunstobjekten überreich zu illustrieren.


Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Christa Sütterlin: Weltsprache Kunst - Zur Natur- und Kunstgeschichte bildlicher Kommunikation
Christian Brandstätter Verlag