Kein Nathan der Weise

Von Richard Szklorz |
Schon einen Tag nach dem ersten Sperrfeuer meldete sich Michael Naumann, einst Kulturstaatssekretär unter Bundeskanzler Gerhard Schröder. Die Schröder-Jahre! Waren das nicht die Zeiten, in denen das Berliner Holocaust-Denkmal im Entstehen begriffen war, das nach des Kanzlers Worten ein Ort werden sollte, "wo Menschen gerne hingehen"?
Damals war in den Köpfen so mancher Entscheidungsträger wohl die Stufe Zwo - oder war's schon die drei? - der "deutsch – jüdischen Versöhnung" angelaufen, für die sich der Kunsthändler Heinz Berggruen bestens zu eignen schien.

In den Verrissen des Buches von Vivien Stein ist verdächtig viel von dieser Versöhnung die Rede, deren herausragendes Symbol Heinz Berggruen gewesen sei. Der werde jetzt demontiert. Die ursprüngliche Heiligsprechung Berggruens bildete schon damals eine passende Projektionsfläche für den menschlich verständlichen, letztlich illusorischen Wunsch, sich von der Last des Dritten Reiches zu lösen. Als fühlten sie sich ertappt bei ihrem falschen Gefühl von damals, schreien nun manche "Antisemitismus!", nicht begreifend, dass der inflationäre Gebrauch dieses Begriffs zur Abnutzung führt und das wichtige Anliegen, den wahren Judenhass zu bekämpfen, untergräbt.

Berggruen war nicht die erhoffte Reinkarnation des Nathan des Weisen, als der er in Berlin aufgebaut wurde und sich gerne aufbauen ließ. Für Vivien Stein war er der schlaue Hans, hinter dem sich jetzt Schatten nur deshalb so deutlich auftun, weil das Licht, mit dem er in Berlin bestrahlt wurde, ein wenig zu grell ausfiel.

Das ändert nichts daran, dass Heinz Berggruen Ehrenbürger von Berlin ist und seine Bilder, die Berlin vielleicht gar nicht verdient hat, weiter bestaunt werden. Auch das Berggruen-Gymnasium im Berliner Westend wird sich nach der Entzauberung des Kunstsammlers mit dessen Namen schmücken. Ein Fortschritt allemal. Trug doch diese Schule bis vor wenigen Jahren den Namen eines Nazigenerals. Nur das mit der offiziellen Trauerbeflaggung der Stadt hätte man damals doch vielleicht lassen können. Das war eben dieses eine bisschen von mehreren bisschen zu viel.

Vivien Stein, Kind deutschsprachiger böhmischer Vorfahren, die sich vor dem Zugriff der Nazis retten konnten, scheint das deutsche Versöhnungsbedürfnis abzugehen. Dies ermöglichte ihr, einen nüchternen Blick auf das Objekt ihrer recherchierwütigen Leidenschaft zu werfen. Obwohl sie die deutschen Verhältnisse gut kennt, musste sie als Amerikanerin und Autorin mit jüdischen Wurzeln nicht auf verborgene deutsche Ängste vor Antisemitismus achten.

Vieles erscheint nach der Lektüre des heftig bekämpften Buches in einem neuen Licht. Die Raserei, mit der es niedergemacht wurde, dokumentiert - eher unfreiwillig - die Seelenlage jener, die damals glaubten und scheinbar immer noch glauben, man könne sich für 250 Millionen DM eine Stufe in Richtung Versöhnung und Normalität erkaufen.

Dennoch bleibt die Frage, woher die Autorin Stein ihre Angriffslust hernimmt. Dazu war in einem Zwischenruf des bekannten Zürcher Kunsthändlers Walter Feilchenfeldt ein wahres Wort zu lesen: "Das Buch ist eine Verarbeitung eines Nachkommens der Holocaust-Generation dessen, was in Nazi-Deutschland geschehen ist und für uns alle unverständlich bleibt. Jeder Mensch dieser Generation ... hat das Recht, sich auf seine Weise mit dieser Vergangenheit auseinanderzusetzen. Versöhnung und Vergebung sind zwei biblische Begriffe, an denen wir uns alle ohne Unterbrechung die Zähne ausbeißen."

Vorerst aber müssen sich diejenigen, die einen Heiligenschein über dem Haupt von Heinz Berggruen anbrachten, die Zähne an Vivien Steins Buch ausbeißen.