Kein Fortschritt um jeden Preis

Moderation: Susanne Führer · 27.06.2012
Auch 300 Jahre nach Geburt des Philosophen Jean-Jacques Rousseau sind dessen Texte noch lesenswert, meint der Publizist Manfred Geier. Als fortschrittskritischer Freiheitskämpfer lehnte Rousseau zum Beispiel die Macht des Geldes ab: "Ich finde, kein Thema ist heute aktueller."
Susanne Führer: Am 28. Juni 1712 wird Jean-Jacques Rousseau in Genf geboren, also morgen vor 300 Jahren. Seine Kindheit und Jugend als unglücklich zu beschreiben, das wäre wahrscheinlich noch untertrieben: Rousseaus Mutter starb im Kindbett, sein Vater verließ ihn, als er noch ein Junge war, sein Lehrherr quälte ihn. Er hatte weder Geld noch einen Beruf und wurde doch zu einem der berühmtesten Intellektuellen seiner Zeit. Im Studio ist nun der Publizist Manfred Geier, um uns Rousseau und sein Werk nahezubringen. Guten Morgen, Herr Geier, schön, dass Sie da sind!

Manfred Geier: Guten Morgen!

Führer: Die Meisten haben ja in der Schule Rousseau als Autor des Gesellschaftsvertrages und vielleicht auch noch des Buches "Emile oder über die Erziehung" kennengelernt. Das sind ja schon mal zwei Felder, auf denen Rousseau sich betätigte, also die politische Philosophie und die Pädagogik, aber er hat sich ja noch mit so manchem anderen beschäftigt, also mit Musik, Botanik, Kulturkritik, Gesellschaftskritik, einen Roman hat er auch noch geschrieben. Kann man dieses vielfältige Werk trotzdem irgendwie auf einen Nenner bringen?

Geier: Man kann es auf den Nenner bringen, es ist alles von Rousseau. Das ist natürlich eine schwache Antwort, aber man merkt es schon im Stil, er ist ja ein Denker, der auch einen ganz besonderen, modernen, eleganten, intellektuellen Schreibstil entwickelt. Und dieser Stil ist unverkennbar, also der Rhythmus seiner Sprache, das ist Rousseau, egal, womit er sich beschäftigt.

Man kann Rousseau-Texte sofort erkennen, ob er sich nun mit der Erziehung eines Jungen zu einem mündigen Menschen beschäftigt, ob er sich damit beschäftigt, wie sich Individuen, die frei sein wollen, miteinander vertraglich in einer Gesellschaft vereinigen können - all diese Probleme, mit denen er sich beschäftigt, sind immer unverwechselbar Rousseau, weil nämlich doch dahinter ein Grundproblem steckt in fast all seinen Arbeiten: Wie verhält sich die individuelle Freiheit von Einzelwesen zu den Zwängen und den Gesellschaften, in denen sie leben?

Das ist das Grundproblem, ob er das nun in der Pädagogik behandelt oder in der politischen Philosophie oder in der Literatur: Es geht immer um dieses Spannungsverhältnis meiner individuellen Freiheit und den Zwängen, unter denen ich leben muss und denen ich gar nicht entkommen kann.

Führer: Er muss ja ein schwieriger Mensch gewesen sein, er hat sich so ziemlich mit allen Freunden, Weggefährten und Geliebten irgendwann verkracht.

Geier: Ja, das ist ja notwendigerweise. Ich glaube, wenn man Rousseau sieht als jemanden, der einen unbezwingbaren Freiheitsimpuls hat, dann muss man eben in Schwierigkeiten geraten. Wie kann man seine Freiheit wirklich leben, wenn man zum Beispiel einen Partner hat, der natürlich auch sein eigenes Recht fordert, und man dabei sofort Rücksicht nehmen muss auf die Ansprüche und die Zwänge des anderen?

Also ein Mensch, der so unbedingt frei sein wollte wie er, aus welchen Gründen auch immer, muss sich mit anderen anlegen, die er dann auch als Bedrohung seiner Freiheit wahrnimmt. Auch gedanklich, er entwickelt neue Ideen, und er merkt, aha, ich stoße mit diesen Ideen schon wieder auf die Widersprüche von anderen, wie kann ich mich behaupten. Und damit wird natürlich das Leben problematisch.

Führer: Das ist jetzt die philosophische Antwort, man könnte auch eine psychologische geben. Manche sagen ja, er litt unter pathologischem Verfolgungswahn.

Geier: Der pathologische Verfolgungswahn - würde ich so nicht sehen - ist ja eher eine Lebenserfahrung. Er lebte durchaus am Anfang seines Lebens, die erste Hälfte seines Lebens, recht glücklich, er lässt sich auch treiben, er lebt als Bohèmien, er lebt in Paris, und dann schreibt er zwei Bücher, die im gleichen Jahr veröffentlicht werden sollen - Sie erwähnten ja den Titel. Also die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages und den Erziehungsroman "Emile", in dem er zeigen möchte, wie ein Mensch zu einem freien, mündigen Bürger erzogen werden kann. Und er hofft, damit Eindruck zu machen und etwas wichtiges gesagt zu haben.

Und beide Bücher werden angeklagt vom Gericht, beide Bücher werden zum Tode verurteilt, sie werden öffentlich zerrissen und verbrannt, und gegen den Autor wird ein Haftbefehl erlassen. Und damit beginnt seine zweite Lebenshälfte - auf der Flucht. Er wird durch ganz Europa getrieben, wie sollte man da nicht verrückt werden?

Führer: Herr Geier, lassen Sie uns bei den Werken noch mal ein früheres betrachten, nämlich das, mit dem er dann schlagartig berühmt wurde, den "Discours sur les Sciences et les Arts", also die Abhandlung, ob die Wissenschaften etwas zur Läuterung der Sitten beigetragen haben. Das verneint Rousseau ja, für ihn ist der Mensch ursprünglich gut. Das ist ja ein Gedanke, der zu vielen Missverständnissen geführt hat - also man hat gesagt, der will zurück zur Natur, der Mensch ist ein gutes Wesen. Wie hat Rousseau das eigentlich genauer gemeint?

Geier: Ja, die Frage war - das war ja klar, die Frage sollte optimistisch, positiv beantwortet werden. Der Fortschritt der Wissenschaft und auch der technischen Künste ...

Führer: Die Frage - wir sollten sagen, das war eine Ausschreibung der Akademie ...

Geier: Es war eine Ausschreibung einer Akademie von Dijon, eine öffentliche Ausschreibung, im Grunde ein Preisausschreiben, und die klügste Antwort, auch die überzeugendste Antwort, vielleicht auch die sprachlich eleganteste Antwort, wurde dann prämiert. Er gewann den Preis, eine Goldmedaille, recht wertvoll, und er war mit seiner Antwort sofort innerhalb Europas populär und bekannt. Es war die Schrift eines Unbekannten - man kannte ihn vorher kaum.

Er kam ja … es war ja ein sehr verwirrtes Leben, als er diese Frage beantwortet. Und ja, er beantwortet diese Frage mit einem klaren Nein, und um nun zu zeigen, warum die Entwicklung der Zivilisation möglicherweise gar nicht zum Besseren führt in moralischer Hinsicht, sondern dass da neue Verkleidung, Irritation, Lügenhaftigkeit, gesellschaftlicher Schein, Bluff, Cliquenwirtschaft und so weiter stattfinden, jeder kämpft, um seine eigene Eitelkeit zu befriedigen, gegen jeden anderen, entwickelt er dagegen ein Gegenbild, und das ist für ihn halt der natürliche Mensch.

Der steckt aber auch noch in uns, und das ist halt ein Mensch, der diesen ganzen Kampf um Anerkennung, diese Eigenliebe, diese Selbstsucht, dieses sich selbst Aufplustern in dem, was man wissenschaftlich oder philosophisch leistet, nicht hat. Der ist nicht gut in moralischer Hinsicht, sondern er lebt noch in einer Welt, in der er mit sich selbst und der Welt in Übereinstimmung lebt. Und das ist eine kritische Idee, die Rousseau benutzt, um auch unsere gegenwärtige Situation kritisieren können, also ein Maßstab der Kritik.

Führer: Manfred Geier spricht in Deutschlandradio Kultur über Jean-Jacques Rousseau aus Anlass dessen 300. Geburtstags. Herr Geier, das klingt ein bisschen fast so, finde ich, wie eine Vorwegnahme der Dialektik der Aufklärung. Denn er ist ja nicht - man kann ja nicht sagen, dass er sich jetzt gegen die Wissenschaften und die Künste wendet, sondern er ist einer der Frühen, die den Preis schon benennen können, der durch diese Zivilisation gezahlt werden muss.

Geier: Ja. Er kommt im Grunde aus der Tradition der Aufklärung, oder genauer gesagt, er ordnet sich ja keiner Theorie zu, sondern er ist mit Aufklärern befreundet. Er ist befreundet mit Denis Diderot, mit d'Alembert, mit anderen, und ist insofern Teil dieser kulturellen jugendlichen Bewegung, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts gegen den Staat, gegen die Macht des Staates, gegen die Dogmatik der Kirche opponiert. Dazu gehört er selbst.

Aber als er sich dann diese Frage wirklich ernst stellt - hat der Fortschritt der Wissenschaften uns moralisch verbessert? -, da gerät er in einen Zweifel. Er stellt die Frage, er gibt keine einfache Antwort, sondern diese Frage bringt ihn aus der Bahn. Er hat einen Moment der Erleuchtung, wo so tausende Gedanken durch seinen Kopf gehen, die er dann in seinem Werk beantwortet. Und er macht die Gegenrechnung auf, wie Sie sagen.

Er sagt, ja, der wissenschaftliche Fortschritt ist da, auch die Entwicklung der Zivilisation ist da, aber sie wird erkauft mit etwas. Der Mensch geht sich selbst möglicherweise verloren. Er spricht als Erster von der Entfremdung des modernen Menschen, der seine natürlichen Impulse nicht mehr gemeinsam mit anderen in einer freiheitlichen Gesellschaft realisieren kann. Und das ist der Stachel Rousseau, der uns ja heute immer noch betrifft.

Führer: Das gibt mir gut Gelegenheit, die Frage zu stellen, was er uns denn heute noch zu sagen hat. Denn eigentlich könnte man denken, viele seiner Gedanken sind ja heute Allgemeingut. Also der Gesellschaftsvertrag, die moderne Demokratie, die humane Erziehung, die wir uns heute auf die Fahnen geschrieben haben - hat er uns heute noch etwas Neues zu sagen?

Geier: Ja, er hat uns etwas Neues zu sagen, indem er diesen Stachel der Kritik immer noch formuliert. Sehen Sie, man sagt, wir leben in einer Demokratie. Rousseau würde sagen, ja, aber in einer repräsentativen. Und die Repräsentation der freien Bürger lehnt er zum Beispiel ab. Er ist kein Vertreter der repräsentativen Demokratie, wo Politiker ihre Politik machen und ab und zu mal von uns bestätigt werden, in der Wahl. Nein, er ist der Vertreter einer plebiszitären Volksdemokratie, das Ideal von freien Menschen, die gemeinsam herausbekommen, was sie im Interesse ihrer Freiheit gemeinsam wollen.

Also er ist ein Vertreter einer plebiszitären Demokratie, direkte Volksbeteiligung, direkte Volksentscheidung, und die ist ja heute in dem Sinne, ja, muss ja immer wieder neu erkämpft werden gegenüber der Verselbstständigung, der Macht der Repräsentanten. Und das Zweite, er lehnt das Geld ab. Ich meine, das ist doch eine radikale Konsequenz: Er lehnt Steuern ab, und er sagt, ja, indem wir uns dem Geld ausliefern, werden wir immer mehr abhängig von Machthabern, die über dieses Geld verfügen, und wir werden abhängig von strukturellen Problemen, die mit der Geldwirtschaft verbunden sind. Ich finde, kein Thema ist heute aktueller, gerade in Europa, als diese Kritik Rousseaus am Geld.

Führer: Herr Geier, wenn jetzt die Hörer auch aufgrund Ihres leidenschaftlichen Plädoyers für Rousseau noch mal Lust bekommen haben, den zu lesen, was würden Sie denn als Einstieg empfehlen?

Geier: Immer den Originaltext. Der Originaltext ist doch immer meistens faszinierender und interessanter als die Sekundärliteratur. Gerade jetzt ...

Führer: Und welchen der Vielen? Das meinte ich.

Geier: Es gibt zwei Schriften, und die gibt es ja immer noch, die sind damals herausgegeben, eigentlich schon 1987 von Henning Ritter, zwei Bände, und in diesen beiden Bänden sind sowohl biografische Schriften drin, die sie erwähnt haben, auch seine Verteidigungsschriften gegenüber den angriffen, aber auch die beiden ersten Diskurse über Wissenschaft und der zweite über die menschliche Ungleichheit. Also man kann immer diese Texte lesen, es sind Diskurse, kurze Texte, längere Texte, immer noch faszinierend.

Führer: Also Leute, lest Rousseau, auch noch mal aktuell, jetzt kurz vor dem nächsten EU-Gipfel. Das war der Publizist Manfred Geier, und das jüngste Buch Manfred Geiers heißt übrigens "Aufklärung - das europäische Projekt" und ist bei Rowohlt erschienen. Und noch mehr Rousseau gibt es heute Abend bei uns im Deutschlandradio Kultur in den "Zeitreisen" ab 19:30 Uhr, unter dem Titel dann "Ein Gesellschaftsvertrag für Genf - Jean-Jacques Rousseau zum 300. Geburtstag". Und Ihnen, Herr Geier, danke ich ganz herzlich für Ihren Besuch hier!

Geier: Ja, danke schön!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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