"Kein Atomkraftwerk in Europa ist gegen eine Kernschmelze ausgelegt"

Alexander Roßnagel im Gespräch mit Jan-Christoph Kitzler |
Keines der in Betrieb befindlichen deutschen Atomkraftwerke erfülle die in Deutschland existierenden Sicherheitsanforderungen, sagt der Rechtswissenschaftler Alexander Roßnagel. Atomkraftwerke würden seit 1994 nur genehmigt, wenn die Auswirkungen einer möglichen Kernschmelze "nicht über den Zaun des Reaktorbetriebsgeländes hinausgehen".
Jan-Christoph Kitzler: Die Welt ist natürlich jetzt alarmiert angesichts der Atomkatastrophe in Japan, und die Angst, die jetzt wieder herrscht vor dem GAU, sie strahlt irgendwie auch ab auf die Politik. Die Bundesregierung hat wohl auch mit dem Blick auf die Landtagswahlen ein Moratorium der eigentlich schon entschiedenen Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke in Deutschland beschlossen, und gestern ist auch auf europäischer Ebene EU-Kommissar Günther Oettinger aktiv geworden, er will nun Stresstests einführen für alle 143 Atomkraftwerke in der Europäischen Union. Was ist von diesem Aktionismus zu halten? Das bespreche ich jetzt mit dem Umweltrechtler Alexander Roßnagel, Professor an der Universität Kassel. Schönen guten Morgen!

Alexander Roßnagel: Guten Morgen, Herr Kitzler!

Kitzler: Halten Sie denn die geplanten Stresstests – bleiben wir mal bei dem europäischen Thema –, die Günther Oettinger gestern angekündigt hat, für sinnvoll?

Roßnagel: Also man kann sie für sinnvoll halten, weil sie zu mehr Information über die Sicherheit der europäischen Atomkraftwerke führen. Die jetzt entscheidenden Fragen sind aber eigentlich schon alle bekannt, also man weiß, dass kein Atomkraftwerk in Europa gegen eine Kernschmelze ausgelegt ist, keines verfügt über einen Core-Catcher und ...

Kitzler: ... was heißt das, ein Core-Catcher, Entschuldigung?

Roßnagel: Das ist eine Vorrichtung, die das glühende Lava, wenn der Kern geschmolzen ist, dann auffangen könnte, weil da besondere Betonvorrichtungen und entsprechende Metallvorrichtungen vorhanden sind, um mit 2000 Grad heißem, glühendem Metall umzugehen. Über so was ... Also man weiß, dass man so was bauen kann, aber kein Atomkraftwerk verfügt über so was.

Kitzler: Kann ich es auf den Punkt bringen und sagen, die Stresstests, die jetzt angekündigt werden, das ist ein Versuch, die Empörung irgendwie zu kanalisieren, ein Placebo?

Roßnagel: Bezogen auf das, was jetzt in Japan passiert, kann man das so sagen, ja.

Kitzler: Es ist ja noch gar nicht klar, wie diese Stresstests ausgestaltet werden sollen. Sehen Sie da deutliche Anforderungen, wie das sein müsste?

Roßnagel: Ja man müsste eigentlich Bezug nehmen auf das, was da jetzt in Japan passiert ist und wo man jetzt neue Erfahrungen mit macht, nämlich erstens die Risiken von Erdbeben, zweitens die Risiken, die dadurch entstehen, dass in einem Atomkraftwerk hohe Radioaktivität austritt und die Mannschaft dann gar nicht in der Leitwarte verbleiben kann – also man braucht für alle Atomkraftwerke eigentlich externe Notstandswarten, die weiter weg gelagert sind und wo man dann auch aus der Ferne das Atomkraftwerk steuern kann –, und man bräuchte eigentlich Vorrichtungen, die erlauben, dann auch bei Kernschmelzen noch Sicherheit zu gewährleisten.

Kitzler: Bisher kocht ja jedes Land in der EU so ein bisschen sein eigenes atompolitisches Süppchen. Brauchen wir eine zentrale europäische Atomaufsicht?

Roßnagel: Zur Vereinheitlichung ja. Ob das zur Erhöhung der Sicherheit insgesamt führt, bin ich skeptisch.

Kitzler: Kommen wir mal ins Inland: Die Laufzeitverlängerung ist ja jetzt ausgesetzt mit diesem dreimonatigen Moratorium. – Ist das eigentlich rechtlich alles so in Ordnung, dass das so abgelaufen ist?

Roßnagel: Nein, also ich halte nichts davon. Sie müssen sich klar machen, dieses Laufzeitverlängerungsgesetz ist vom Bundestag beschlossen worden, ist vom Bundespräsidenten unterschrieben worden, ist dann im Bundesgesetzblatt verkündet worden und gilt seit dem 1. Januar 2011. Seitdem sind die Genehmigungen der Atomkraftwerke um acht oder 14 Jahre verlängert worden. Und nach der Gewaltenteilung, die in der Bundesrepublik Deutschland herrscht, kann nicht die Bundesregierung jetzt einfach hergehen und ein bestehendes, gültiges Gesetz aussetzen. Also was hier versucht wird, ist, einen politischen Fehler zu korrigieren, den man im Herbst gemacht hat, dadurch, dass man die Laufzeitverlängerung ohne vorherige Sicherheitsüberprüfungen der Atomkraftwerke für alle gleichermaßen beschlossen hat.

Kitzler: Das heißt, Norbert Lammert, der Bundestagspräsident, hat recht, wenn er sagt, er will jetzt noch mal prüfen, ob es überhaupt neue gesetzliche Regelungen, die dann eben durch ein Parlament müssten, bedarf?

Roßnagel: Wenn man das Laufzeitverlängerungsgesetz aufheben oder aussetzen will, braucht man dazu ein Gesetz. Insofern hat er vollkommen recht. Die Bundesregierung kann jetzt nur auf dem bestehenden Atomrecht ihre verwaltungsrechtlichen Kompetenzen ausüben, also sie kann die Behörden der Länder überreden oder im Notfall anweisen, dass sie in den Atomkraftwerken, um die es jetzt geht, eine Gefahr sieht, eine atomrechtliche Gefahr. Das hieße, die Behörden müssen eine 180-Grad-Kehrtwendung ihrer bisherigen Bewertung vornehmen und müssen dann aufgrund dieser atomrechtlichen Gefahr nach Paragraf 19 Absatz 3 Atomgesetz den Betrieb der Atomkraftwerke vorübergehend untersagen. Das ist möglich. Und ich verstehe, wenn da jetzt untechnisch von Moratorium geredet wird, eigentlich genau diese Aktion, dass die Bundesregierung die Länderbehörden dazu bringen will, vorübergehend den Betrieb der Atomkraftwerke auszusetzen.

Kitzler: Heißt das nicht eigentlich auch, das, was in Japan passiert ist, und das, was Sie jetzt beschreiben in Deutschland, dass wir Änderungen im deutschen Atomrecht brauchen?

Roßnagel: Ja, wir haben ja die Situation, dass kein Atomkraftwerk, wenn es heute eine Genehmigung beantragen würde, diese bekommen könnte. Also die sieben Atomkraftwerke, um die jetzt die Diskussion hauptsächlich geht, waren schon seit 1983 nicht mehr genehmigungsfähig und sind jetzt die ganze Zeit weiter betrieben worden. Da gibt es Konstruktionsmerkmale dieser Atomkraftwerke, die nicht auch durch Nachrüstungen zu verändern sind, und diese wären bei neuen Atomkraftwerken, wie gesagt seit 1983, nicht mehr genehmigungsfähig. Die schwarz-gelbe Mehrheit hat 1994 das Atomgesetz geändert und damals beschlossen, dass Atomkraftwerke künftig, ab 1994, nicht mehr genehmigt werden dürfen, wenn die Auswirkungen einer Kernschmelze über die Grenze des Zauns des Reaktorbetriebsgeländes hinausgehen. Und dass genau dieses passiert, sieht man jetzt in Japan. Kein deutsches Atomkraftwerk kann diese Anforderung erfüllen. Also insofern haben wir eine Situation, dass wir in den rechtlichen Anforderungen schon viel, viel weiter sind, als die Atomkraftwerke, die in Deutschland betrieben werden, dies einhalten können. Und dennoch ist die Genehmigung aller dieser Atomkraftwerke um acht oder 14 Jahre verlängert worden.

Kitzler: Das deutsche Atomrecht muss angepasst werden, so sieht es der Umweltrechtler Alexander Roßnagel, Professor an der Universität Kassel. Haben Sie vielen Tag und einen schönen Tag!

Roßnagel: Ihnen auch, vielen Dank!
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