Geophysiker: "Sehr starke Erdbebengefahr" im Rheingraben

Gerhard Jentsch im Gespräch mit Ute Welty |
Nach Aussage des Geophysikers Gerhard Jentsch spielt die Erdbebenstärke "für die Gefährdung der Kernkraftwerksstandorte eine geringe Rolle". Wichtig sei vielmehr "die Erschütterung, die an dem Standort ankommt". Ältere Kraftwerke in Deutschland seien nicht für starke Erschütterungen ausgelegt.
Ute Welty: Das Beben in Japan verändert den Lauf der Welt. Über die Folgen im übertragenen Sinne sind wir uns womöglich noch nicht ganz im klaren. Aber es gibt auch Folgen im ganz wörtlichen Sinne: Das Beben in Japan hat die Erdachse um zehn Zentimeter verschoben. Was das bedeutet und was es nicht bedeutet, das bespreche ich jetzt mit Gerhard Jentzsch, Professor für angewandte Geophysik in Jena. Guten Morgen!

Gerhard Jentzsch: Schönen guten Morgen.

Welty: Herr Jentzsch, ich habe gelernt, dass mein Tag und auch der Ihre um etwas mehr als den Millionsten Teil einer Sekunde kürzer geworden ist. Wirkt sich diese Verschiebung der Erdachse auch noch anders aus, oder ist das alles in allem eine unerhebliche Veränderung?

Jentzsch: Also, ich würde es eher unter der Rubrik unerheblich verbuchen wollen, vor allen Dingen, weil, wie Sie schon sagten, die Veränderung äußerst klein ist. Das ist im Prinzip eine ausgerechnete Geschichte, die kann man gar nicht mal messen.

Welty: Aber es macht einen schon ein bisschen stutzig. Zehn Zentimeter sind ja jetzt auch nicht so wenig.

Jentzsch: Na ja, es kommt immer darauf an, in welcher Relation Sie die zehn Zentimeter sehen. Wenn Sie die in Bezug auf den Erdumfang sehen, dann ist es allerdings sehr wenig. Es gibt andere Bewegungen der Erdachse, die sind deutlich größer, und die können wir sehr gut messen und die beobachten wir auch im Hinblick auf den Aufbau der Erde.

Welty: Wodurch kommen diese Bewegungen der Erdachse und wie messen Sie das?

Jentzsch: Zunächst erst mal: Die Ursache sind Massenverlagerungen auf der Erde. Das ist zum Beispiel ganz einfach dadurch zu erklären, dass die Land-Wasser-Verteilung ja nicht symmetrisch ist, sondern wir haben mehr Land oder mehr Kontinente auf der Nordhalbkugel als auf der Südhalbkugel, und wenn nun, bedingt durch die saisonalen Schwankungen, der Wasserstand sich ändert, die Eisbedeckung sich ändert, dann ändert sich eben auch die Massenverteilung. Wir haben eine Figurenachse, das ist die Symmetrie-Achse, die wir uns durch die Erde gedacht denken können, und dann die Rotations-Achse, und diese beiden Achsen, die wandern umeinander herum. Die beiden Spitzen der Achsen am Nordpol und am Südpol, das ist ein Kreis mit einem Radius von etwa 15 Metern.

Welty: Also über die Erdachse müssen wir uns eigentlich keine Sorgen machen?

Jentzsch: Nein, auf keinen Fall.

Welty: Was aber auch für den Laien erkennbar ist auf den Satellitenbildern, das ist, dass Japan zum einen eine andere Form bekommen hat, und zum anderen auch verrutscht ist. Was ist das für eine Größenordnung?

Jentzsch: Na ja, wir haben ja so ein Verrutschen schon nach dem Chile-Beben im letzten Jahr in Südamerika feststellen können. Die Verschiebung heißt natürlich, dass unsere Freunde von der Fachrichtung Geodäsie das Problem haben, die Koordinaten neu zu bestimmen. Die müssen dann ihr Referenzsystem verändern.

Welty: Wenn Sie das alles so heranziehen, was über das Beben und den Tsunami in Japan berichtet worden ist in den letzten Tagen, bebt da der Magen eines Geophysikers bei all dem "Blödsinn", der da gesprochen wird?

Jentzsch: Ja, ja. Das ist leider zu sagen, und eine Geschichte, die ja auch jetzt im Zusammenhang mit den deutschen Kernkraftwerken diskutiert wird, ist die Frage, ob solche Erdbeben auch bei uns auftreten können - mit dem Hintergrund: sind unsere Kernkraftwerke auch in Gefahr.

Und da kann ich eigentlich nur ganz klar sagen, die Erdbebenstärke, so komisch das klingt, spielt für die Gefährdung der Kernkraftwerksstandorte eine geringe Rolle. Das heißt mit anderen Worten: Ein starkes Erdbeben, was weit entfernt ist, kann durchaus eine geringere Erschütterung hervorrufen als ein schwaches Erdbeben, was dicht dran ist. Und diese Magnitude beschreibt die freigesetzte Energie im Erdbebenherd, aber die Intensität beschreibt die Erschütterung am Ort, an dem wir uns befinden, oder an dem sich das Objekt befindet.

Da muss man sagen, haben wir im Rheingraben eine sehr starke Erdbebengefahr. Das sind keine Beben der Magnitude acht, aber da die Beben relativ flach sind, kann es durchaus sein, dass die dort zu starken Erschütterungen führen können, und einige der älteren Kraftwerke sind ja nicht gerade für sehr starke Erschütterungen ausgelegt.

Welty: Man hat ja auch schon Konsequenzen gezogen, und zwar schon bereits 1988, indem man Mülheim-Kärlich eben auch aufgrund einer Erdbebengefahr vom Netz genommen hat beziehungsweise stillgelegt hat.

Jentzsch: Ja.

Welty: Was halten Sie denn dann von der Aussage der Kanzlerin, jetzt in drei Monaten das alles noch mal zu überprüfen?

Jentzsch: Na ja, ich war sehr zunächst mal erstaunt, weil ich das nicht erwartet hatte, und ich wäre sehr erfreut, wenn dieses Moratorium von drei Monaten tatsächlich zu einem Umdenken führt. Man wird natürlich in drei Monaten nicht Forschungsarbeiten der letzten zehn Jahre aufarbeiten können, oder neu überarbeiten können, aber man wird doch ein paar Randbedingungen prüfen können und vielleicht mit einem anderen Auge darauf schauen.

Welty: Hätte das nicht vorher schon passieren müssen?

Jentzsch: Na ja, wissen Sie, ich bin in der Beziehung auch frustriert. Ich war ja Mitglied des Ausschusses, der ein Verfahren zur Endlagersuche in Deutschland entwickelt hat, und dieses Verfahren haben wir publiziert, das ist im Auftrag des Umweltministeriums geschehen, mit Steuergeldern sozusagen, und nach unseren Empfehlungen richten sich zum Teil die Franzosen, zum Teil die Schweizer, selbst in weiteren Ländern werden diese Pläne, die wir gemacht haben, positiv diskutiert, nur in Deutschland passiert nichts. Und das kann nicht der Weg sein. Wir können nicht an einem Standort festhalten und hoffen, dass das ein guter Standort sein wird. Die Lösung muss noch erarbeitet werden.

Welty: Gerhard Jentzsch, Professor für angewandte Geophysik, in Deutschlandradio Kultur. Ich danke fürs Gespräch.

Jentzsch: Ich danke auch.