Kehlmann: Erstaunlich ist, dass die meisten Leute die Wahrheit sagen

Daniel Kehlmann im Gespräch mit Katrin Heise · 02.09.2013
Für den Schriftsteller ist klar: Die Menschen wollen getäuscht werden. Das liege vor allem daran, dass das Zusammenleben notwendigerweise auf Treu und Glaube basiere, sagt Daniel Kehlmann. Die Figuren in seinem Roman "F" - unter anderem ein Kunstfälscher und ein Wirtschaftsbetrüger - nutzen diesen Umstand aus. Daniel Kehlmann wurde mit denen Romanen "Die Vermessung der Welt" und "Ruhm" bekannt.
Katrin Heise: Das Leben der drei Brüder Martin, Eric und Iwan ist eine einzige Täuschung. Martin, als katholischer Pfarrer, nimmt die Beichte ab, glaubt aber selber nicht an Gott, auch nach größtem Bemühen nicht. Eric verzockt als Vermögensberater das Kapital seines Kunden und greift zur Tarnung auf Fantasiezahlen zurück. Schließlich hilft ihm dann die Finanzkrise. Und dann, Iwan, er traut seinem Talent zum Künstler nicht und malt deshalb Gemälde im Namen eines bereits bekannten Malers, seines Geliebten, und verkauft diese dann nach dessen Tod. Artur, der Vater der Drei, hat sich in seinem bisherigen Leben insgesamt getäuscht und gibt es auf, verschwindet, verlässt Frau und Kinder. Das sind so einige meiner Eindrücke aus Daniel Kehlmanns neuem Roman "F". Und den Autor begrüße ich jetzt ganz herzlich. Ich freue mich sehr, dass sie gekommen sind. Schönen guten Morgen, Daniel Kehlmann!

Daniel Kehlmann: Guten Morgen!

Heise: Was fasziniert Sie so sehr an Täuschung?

Kehlmann: Ich hab eigentlich zu diesem Buch gefunden zunächst mal, weil die Figuren zu mir gekommen sind, sozusagen, oder mir als Idee kamen. Und, ja, es war diese Idee, einen Roman über drei Brüder zu schreiben, und es ergibt sich fast von selber, wenn man über drei Brüder schreibt, dass die auch dann für unterschiedliche Teile der Welt, der Gesellschaft, des Lebens und auch Milieus stehen. Und ich war immer schon fasziniert von Hochstaplern, und hab mich auch schon immer interessiert für Hochstaplertechniken, von den ganz einfachen Sachen, Geld falsch wechseln bis zu den komplizierten Sachen, wie wir sie aus der Wirtschaft kennen, den ganz aufwendigen, komplexen Hochstaplervorgangsweisen. Und ja, dann kam es relativ früh zusammen, dass diese drei Brüder eben auf unterschiedliche Weise – ich will gar nicht sagen, Hochstapler sind – ein Priester, der an Gott nicht glauben kann, ist ja nicht unbedingt ein Hochstapler, aber er ist auch jemand, der in gewisser Weise eine Lüge lebt.

Heise: Sie haben gerade verschiedene Arten des Täuschens auch angesprochen, die Täuschungen sind zum Teil ja sehr, sehr leicht. Man hat dann immer wieder den Eindruck, wollen wir alle getäuscht werden?

Kehlmann: Ja, also die menschliche Gesellschaft, und das ist nicht unbedingt ein modernes Phänomen, also das ist keine skeptische Zeitdiagnose, sondern das ist einfach eine Grundtatsache des Lebens, dass menschliches Zusammenleben ganz stark auf Treu und Glauben basiert. Wenn man durch den Tag geht, man glaubt anderen Menschen dauernd alles Mögliche. Und das ist auch richtig und gut so und notwendig. Jemand, der plötzlich aufhören würde, anderen Menschen zu glauben, im Beruf und im Privaten, würde zunächst mal es sehr schwer haben, überhaupt zu funktionieren, und früher oder später würde er auch wahnsinnig werden. Also das Erstaunliche ist ja doch, dass die meisten Menschen im normalen Leben meistens die Wahrheit sagen. Aber die Leute, die keine Skrupel haben und die diesen Umstand, dass so viel einfach auf Treu und Glauben basiert, einfach ohne Bedenken für sich ausnützen, die haben es dann erstaunlich leicht. Und es ist ja auch in der Kriminalitätsstatistik so, dass Hochstapler und Trickbetrüger die Gruppe von Verbrechern ausmachen, die am seltensten gefangen wird, also überführt wird, und die, wenn sie dann überführt werden, mit den geringsten Strafen davonkommen.

Heise: Na, und wie Kunstfälscher zum Teil ja auch noch wohlwollend betrachtet werden. Oder gentlemanlike ...

Faszination für Kunstfälscher

Kehlmann: Ja, das ist ein anderes interessantes Thema, dass die Öffentlichkeit diese Faszination für Kunstfälscher hat, etwas, was meine Fälscherfigur, der ja sehr kunsttheoretisch beschlagen ist, eigentlich mit einem gewissen Abscheu sieht. Also er sagt immer, es ist eigentlich nichts Besonderes daran, ein guter Fälscher zu sein. Das hat eben zu tun mit dieser Metaphysik des Expertenblickes, wie ich das nennen würde. Also, man hängt gerne an in der Kunstwelt dieser Idee, dass es Experten und Schätzer gibt, die auf eine ganz innerliche, tiefe, seelische Weise mit dem Künstler verbunden sind und dadurch einen perfekten Blick haben und nicht zu täuschen sind. Und das ist natürlich metaphysischer Unsinn. Ein guter Fälscher ist genauso ein Experte wie ein guter Schätzer, und das ist auch schon das ganze Geheimnis.

Heise: Bei Ihnen – das Thema Original und Fälschung kommt ja sogar in gewisser Weise zweimal vor. Also einmal eben im Bezug auf diese Gemälde, aber dann gibt es eben auch diese Zwillingsbrüder, Eric und Iwan. Die gleichen einander wie ein Ei dem anderen, zum Teil tauschen sie Gedanken aus, also denken den Gedanken des anderen zu Ende. Einer von beiden sagt aber auch mal, ich bin nur die Kopie des anderen. Was bedeutet diese Austauschbarkeit?

"Wie es sein muss, als Zwilling zu leben"

Kehlmann: Ja, das ist natürlich ein Spiel der Einfühlung von mir. Ich habe keinen Bruder und schon gar keinen Zwillingsbruder, aber ich fand es eben faszinierend, mir vorzustellen, wie es sein muss, als Zwilling zu leben, als eineiiger, als Teil eines eineiigen Zwillingspaares. Weil man einerseits ja nie wirklich ganz alleine ist, man ist nicht alleine auf der Welt. Es ist eben auch, wie Zwillinge einem das erzählen, eine ganz andere Art des Aufwachsens. Und andererseits ist man aber auch nicht vollständig ein Individuum. Man ist ein bisschen ja doch die Kopie eines anderen, oder wechselseitig die Kopie voneinander. Und was das in der Praxis bedeutet, dem wollte ich auch ein bisschen nachgehen. In dem Moment, wo diese beiden Brüder anfangen, Geheimnisse zu haben, eben auch sehr wichtige, also nicht nur kleine Geheimnisse, sondern richtig – Geheimnisse, von denen es existenzbedrohend wäre, wenn sie herauskommen –, in dem Moment müssen sie auch sich ein bisschen voneinander entfernen und den Kontakt zueinander abbrechen, weil sie eben glauben, nichts voreinander verstecken zu können. Weil sie sogar Gedanken voneinander denken. Und eine gewisse ironische Pointe des Ganzen ist eben, dass jeder glaubt, er macht das alleine, sich zurückzuziehen, weil der Bruder so rechtschaffen ist. Und die Wahrheit ist, dass sie aber im Grunde wieder als Kopien voneinander handeln. Also der eine ist ein Kunstfälscher, der andere ein Wirtschaftsbetrüger, aber im Grunde machen sie wieder zur gleichen Zeit etwas sehr Ähnliches.

Schicksal und Vorsehung

Heise: Daniel Kehlmann zu Gast im Radiofeuilleton. Gerade ist sein Roman "F" herausgekommen. Herr Kehlmann, das Ganze hat ja dann auch noch eine ganz andere Ebene als diese spannende, zu beobachten, wie diese Leben da so mit Tricks irgendwie rumgebogen werden. Jeder versucht, ganz viel zu verändern an seinem Leben. Und letztendlich hängen sie aber doch an, ja, wie unsichtbaren Fäden. Es geht ganz viel um Schicksal und Vorsehung. Ist das ein Thema für Sie, wo Sie denken, irgendwie können wir dann doch nichts ändern?

Kehlmann: Das ist ein großes Thema für mich, das mich auch im Leben sehr beschäftigt und über das ich viel nachdenke. Also im Grunde, die Idee, dass unser Leben irgendwie, sagen wir mal, dramaturgisch vorbestimmt sei, dass es irgendwie einen Bogen gibt, dass es schon Sinn ergibt – eigentlich gehen wir ja in dieser Annahme dauernd durch die Welt. Wir können ja gar nicht anders. Also sogar, wenn wir den Bus nehmen wollen und wir kommen zur Bushaltestelle und der Bus ist gerade weggefahren, dann sagt man: Na, wer weiß, wozu es gut ist. Also ständig beruft man sich darauf vor sich selber, dass das, was einem passiert, schon auf irgendeine Art Sinn hat. Und – aber mich beschäftigt eben die Frage, ob man, wenn man scharf drüber nachdenkt und wenn man die Frage ernst nimmt, ob man dann immer noch das Recht zu dieser Annahme hat. Wenn man religiös ist, ist es einfach, dann sagt man, ja natürlich, Gott hat das alles für mich komponiert und sich ausgedacht, und die sogenannten Zufälle, die mir passieren, sind natürlich ein Teil von Gottes großem Theaterstück. Aber wenn dem nicht so ist, wie kann man dann überhaupt leben mit dieser extremen Freiheit und dieser extremen – Gewichte, die gleichzeitig jeder kleinsten Entscheidung dann zukommt.

Heise: Diese Fäden, von denen Sie auch gerade sprechen, diese Fäden – der gläubige Mensch sagt vielleicht, von Gott gesponnen – Ihr Roman ist aber auch sehr, sehr zeitgenössisch, befasst sich mit Finanzkrise, Kunstfälschung, Kirchenkrise, Familienkrise – also, da kommen einem natürlich dann auch die Gedanken, die Fäden, an denen wir hängen, können ja auch sehr zeitgenössisch sein. Also wir diskutieren ja zurzeit gerade über soziale Medien, Google, an dessen Fäden wir hängen. Ist das da mit drin?

Kehlmann: Ich glaube, die Fäden sind eigentlich immer die gleichen. Nur die Formen und die Situationen ändern sich. Aber die große Frage von Freiheit und Notwendigkeit oder, wie das in einem schönen Titel einer Abhandlung bei Schopenhauer heißt, man kann das einfach gar nicht schöner formulieren: "Über die anscheinende Absichtlichkeit im Leben des Einzelnen" – die Frage bleibt sich gleich, bleibt unverändert, solange es Menschen gibt. Aber natürlich, wenn man ein Buch schreibt, das in der Gegenwart spielt, dann sollte man sich dieser Gegenwart auch aussetzen, und dann sollte man die Frage auch in den Formen verhandeln und in der Gestalt, in der sie uns gerade heute entgegentritt. Aber das ist nicht eine große programmatische Absicht, sondern das macht man eben ganz automatisch. Wenn ein Roman heute spielt, dann spielt er heute.

Heise: Wenn man wie Sie einen Megaerfolg wie "Die Vermessung der Welt" hingelegt hat und "Die Zeit" auch diesmal schon im Vorfeld sagt, also vor Erscheinen des aktuellen Buches, spricht man da schon vom meistdiskutierten Roman des Jahres, bevor irgendein anderer in dieses Buch hat reinschauen können, einfach weil eben nach dem Bestseller all Ihre Bücher meistdiskutierte seien. Das ist doch auch ein ganz schöner Druck, oder?

Kehlmann: Ja, ich glaub es ja nicht wirklich. Das war ja auch eine etwas ironische Wendung in diesem Artikel. Der Autor schrieb ja selber, das Buch ist nicht erschienen und schon das meistdiskutierte Buch – das war ja mehr ein Scherz. Also das nehme ich mit – wenn ich so etwas ernst nehmen würde, würde es ein großer Druck sein, aber ich nehme es eher mit gelassenem Amüsement. Natürlich freut es mich, wenn man sich für das interessiert, was ich schreibe, also, das will ich gar nicht leugnen. Das ist auch ein großer Druck, wenn sich viele Leute für das interessieren und auf das warten, was ich mache. Aber es ist auch ein großer Druck, ganz anderer und viel weniger schöner Art, wenn man etwas schreibt und niemanden interessiert das.

Heise: Das kann ich mir auch vorstellen. Daniel Kehlmann, danke schön für den Besuch hier im Radiofeuilleton! Sein Roman "F" ist im Rowohlt-Verlag erschienen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Herr Kehlmann!

Kehlmann: Vielen Dank!
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Mehr bei dradio.de:

Trickser, Heuchler und Hochstapler
Daniel Kehlmann: "F", Rowohlt 2013, 382 Seiten


Spiegelkabinett der Moderne
Daniel Kehlmann: "Ruhm", Rowohlt Verlag, Reinbek 2009, 203 Seiten


Geburtstagsrede und Poetikvorlesung
Daniel Kehlmann: "Lob - Über Literatur", Rowohlt Verlag, Reinbek 2010, 190 Seiten


Die Außenwelt als Seelenspiegel
Daniel Kehlmann: "Unter der Sonne", Hörbuch Hamburg, 2 CDs, 117 Minuten