Kehlkopf-Sängerin Tanya Taqaq

Mit vollem Körpereinsatz

04:44 Minuten
Tanya Tagaq steht auf einer blau erleuchteten Bühne in violettem Licht und schreit in das Mikrofon.
Fasziniert mit Kehlkopfgesang: die kanadische Sängerin Tanya Tagaq. © Imago / Votos / Roland Owsnitzki
Von Esther Schelander · 03.07.2019
Audio herunterladen
Sie produziert Sounds, die tief aus der Kehle kommen. Die kanadische Inuk Tanya Tagaq entdeckte erst als Studentin den Kehlkopfgesang – er gehört zum Kulturgut ihrer Vorfahren, für das sie kämpfen möchte.
Der Kehlkopfgesang ist eine jahrhundertealte, musikalische Tradition der Inuit. Zwei Frauen stehen einander gegenüber, Gesicht an Gesicht. Mit der Stimme produzieren sie Sounds, die ineinandergreifen, die zusammen einen Rhythmus ergeben. Ruf und Antwort.
Tanya Tagaq ist eine Inuk. Sie wuchs auf in Cambridge Bay in Nunavut, einem Territorium Kanadas. Dort gab es Robben, Nordlichter, Mitternachtssonne. Doch keinen Kehlkopfgesang.

"Meine Community war stark vom Residential School Programm betroffen, mit dem die kanadische Regierung versuchte unsere Kultur auszulöschen. Deswegen hatte ich nie Kehlkopfgesang gehört", erzählt Tanya Tagaq.

Die Kinder durften ihre Sprache nicht sprechen

In den Residential Schools brachte die kanadische Regierung ausschließlich Kinder indigener Gruppen unter. Getrennt von ihren Eltern und ihrer Kultur, waren sie Gewalt ausgesetzt, auch sexualisierter. Die Kinder durften ihre eigenen Sprachen nicht sprechen, ihre Lieder nicht singen.
Das Trauma der Residential Schools ist in den Communities der indigenen Bevölkerung bis heute allgegenwärtig. Genauso wie der Verlust verschiedener kultureller Praktiken. Als sie zum ersten Mal Kehlkopfgesänge hört, ist Tanya Tagaq Studentin.
Sie erinnert sich: "Als ich die Musik hörte, wusste ich sofort: Das kann ich auch. Ich wusste, das gehört zu meinem Körper und zu mir. Und dann hab ich einfach angefangen zu singen. Unter Dusche. Auf der Straße. Ich hätte nie gedacht, dass ich damit Karriere mache."

Tanya Tagaq entwickelt eine völlig eigenständige Form des Kehlkopfgesangs. Ihre Einflüsse sind vielseitig: Popmusik, traditionelle Gesänge, Rap, Beatboxing. Wenn sie singt, dann mit ihrem ganzen Körper. Oft barfuß, manchmal mit geschlossenen Augen, sie wippt, schreit, tobt, haucht.

"Das mag komisch klingen, aber ich kontrolliere Sound nicht. Ich gebe mich ihm hin. Denn Improvisation ist Hingabe. Das ist wie, wenn man Zug fährt und durch das Fenster die Landschaft beobachtet. So beobachte ich, wie die Musik entsteht, ganz ohne mein Zutun. Manchmal denke ich sogar, ich beobachte, wie all das jemand anderem passiert."

Im Publikum saßen Freunde von Björk

Ihr musikalischer Durchbruch kommt unerwartet. Sie ist gerade auf einem Festival, als ein Konzert ausfällt. Jemand hatte sie am Abend zuvor am Feuer singen gehört. Ob sie einspringen kann?
"Ich war richtig nervös, habe mein Kleid angezogen und bin auf die Bühne gegangen. Doch ich habe es sofort geliebt, war wie ein Fisch im Wasser. Im Publikum waren Freunde von Björk. Sie haben mich aufgenommen und ein paar Wochen später rief sie an und sagte, ich solle mit ihr auf Tour kommen."
Die Vespertine World Tour. Tanya Tagaq sagt zu. Später wird sie auf Björks Album "Medulla" singen. Nun kann sie nichts mehr halten: Mit ihrer eigenen Musik tourt sie durch die ganze Welt, erhält 2014 den renommierten Polaris Music Prize. Zahlreiche Kollaborationen mit Musikern und Musikerinnen sämtlicher Genres: Jean Martin, Shad, Kronos Quartet, A Tribe Called Red.

Appell an die Verantwortung der kanadischen Regierung

Vor kurzem hat sie ihr erstes Buch veröffentlicht. Kindheitserinnerungen zwischen Fiktion und Autobiografie. Sie widmet es indigenen Frauen und Mädchen, die bis heute als vermisst gelten oder ermordet wurden, sowie den Überlebenden der Residential Schools. Damit appelliert sie auch an die Verantwortung der kanadische Regierung und Bevölkerung.
"Es gefällt mir nicht, dass die kanadische Regierung als vergleichsweise human wahrgenommen wird. Es gibt auch heute Statistiken, die schrecklich sind. Dass ich und meine beiden Töchter ermordet werden, ist für uns zehnmal wahrscheinlicher, als für weiße Menschen. Irgendwann lange nach meinem Tod, werden die Menschen zurück blicken und sich dafür schämen, wie indigene Gruppen behandelt wurden."
Mehr zum Thema