Keeanga-Yamahtta Taylor: "Black Liberation"

Eine scharfsinnige Rassismusanalyse

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Proteste der Bewegung "Black Lives Matter" in Seattle, Washington im November 2015. © AFP - Jason Redmond / Unrast Verlag
Von Beate Ziegs · 15.07.2017
Mit Keeanga-Yamahtta Taylors Buch "Von #BlackLivesMatter zu Black Liberation" liegt eine der scharfsinnigsten und kämpferischsten Rassismusanalysen vor, die zurzeit auf Deutsch zu haben sind. Es ist zudem ein Lehrstück für linke Projekte und Bewegungen - das zu einem genauso klaren wie beunruhigendem Fazit kommt.
Zimmermans Freispruch erregte weltweit Aufsehen, denn er zeigte, dass es auch unter der Präsidentschaft von Barack Obama nach wie vor zwei Strafjustizsysteme gab: eines für Schwarze und andere Minderheiten sowie eines für Weiße. Aber erst die Erschießung des unbewaffneten afroamerikanischen Schülers Michael Brown durch den weißen Polizisten Darren Wilson im August 2014 in einem kleinen, unbekannten Ort namens Ferguson, Missouri, machte aus der BLM-Bewegung eine Rebellion.
"Vielleicht war es die Unmenschlichkeit der Polizei, die Browns Leichnam viereinhalb Stunden lang in der prallen Sonne liegen ließ und seine Eltern mit gezogenen Waffen und Hunden von ihm fernhielt."
Fragt Keeanga-Yamahtta Taylor, Professorin für Afro American Studies an der Princeton University und selbst Aktivistin, in ihrem Buch "Von #BlackLivesMatter zu Black Liberation".
"Vielleicht war es die Militärausrüstung, mit der die Polizei den Protesten begegnete: gepanzerte Fahrzeuge, Maschinengewehre und schier endlose Mengen Tränengas, Gummigeschosse und Schlagstöcke. Das Ferguson Police Department hatte der Schwarzen Bevölkerung und allen, die sich mit ihr solidarisierten, den Krieg erklärt."

Furguson als Katalysator

Die Aktivistinnen ließen sich jedoch nicht einschüchtern, sondern legten unter anderem offen, wie afroamerikanische Haushalte mit unverhältnismäßig hohen Geldstrafen für kleinste Vergehen belangt wurden, sodass die daraus resultierenden Einnahmen zum zweitwichtigsten Etatposten in der Stadt geworden waren. Der Aufruhr in Ferguson wurde zu einem Katalysator für die Wut in Schwarzen Gemeinden im ganzen Land. Anhand zahlreicher Beispiele schildert Taylor den Würgegriff des staatlichen Rassismus, dem Afroamerikaner, aber auch Latinos oder indigene Ureinwohner, ausgesetzt sind. Detailliert und akribisch mit Quellen belegt, führt sie dem Leser vor Augen, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um das Ergebnis struktureller Gewalt und Unterdrückung, die letztlich eine ganze Gesellschaft zersetzen.
Das erinnert an die Proteste der 1950er- und 1960er-Jahre, an "Black Power" und Stokely Carmichael oder an die "Civil Rights"-Bewegung und Martin Luther King. So unterschiedlich sie die Frage beantworteten, ob ziviler Ungehorsam Gewalt rechtfertige oder nicht, so einig waren sie sich darin, wie Martin Luther King sagte:
" ... [dass] die Schwarze Revolution viel mehr [ist] als ein Kampf für die Rechte von Schwarzen Menschen. Sie zwingt Amerika, allen seinen Mängeln ins Auge zu sehen: Rassismus, Armut, Militarismus, Materialismus. (...) Das bedeutet auch, dass es wirklich um eine radikale Transformation dieser Gesellschaft geht."

Institutioneller Rassismus

Die "Schwarze Revolution" führte zu einem Paradigmenwechsel: Anstatt die Ursachen für die Probleme, mit denen Afroamerikaner zu kämpfen haben, ihnen selbst zuzuschreiben, wurden nun der institutionelle Rassismus und die Rolle des Staates thematisiert – mit dem Ergebnis, dass zwar die legalisierte Segregation in den Südstaaten durch die Verabschiedung von Bürgerrechtsgesetzen und Wahlrechten beseitigt wurde, nicht aber die im ganzen Land täglich praktizierte Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt.
Präsident Johnson reagierte auf die Proteste mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Und tatsächlich flaute die "Schwarze Revolution" ab. Stattdessen bildete sich eine afroamerikanische Elite heraus, die zunehmend auch an der politischen Macht teilhatte. Aber wie Keeanga-Yamahtta Taylor nachweist, hat sich für die große Mehrheit von Afroamerikanern dadurch nichts geändert:
Schwarze Bürgermeister strichen ebenso die Subventionen für die Mahlzeiten in öffentlichen Schulen wie ihre weißen Kollegen und verschrieben sich einer neoliberalen Wachstumspolitik, die auf der einen Seite Steuerkürzungen für private Unternehmen beinhaltete, auf der anderen Seite die Erweiterung des Polizeistaates inklusive des lukrativen Baus neuer Gefängnisse.
Während der Regierung des demokratischen Präsidenten Clinton kam es sogar so weit, dass gewählte afroamerikanische Amtsträger die Ausdehnung der Todesstrafe ebenso unterstützten, wie lebenslange Haftstrafen nicht nur für Gewalttaten bei gleichzeitiger Streichung sämtlicher Fördergelder für die Berufsausbildung von Gefangenen.
"Am Ende von Clintons Amtszeit hatte sich die Zahl afroamerikanischer Gefängnisinsassen verdreifacht. Die USA sperrten nun einen größeren Anteil ihrer Bevölkerung ein als irgendein anderes Land der Welt."

Grenzen schwarzer präsidentieller Macht

Nämlich insgesamt 2,3 Millionen Menschen, von denen etwa eine Million Schwarz ist. Hinzu kommt, dass etwa zehn Prozent der Afroamerikaner nicht wählen dürfen, weil sie einmal eine Gefängnisstrafe verbüßt haben, und dass jeder vierte Schwarze Mann zwischen 20 und 29 Jahren unter der Aufsicht einer Strafjustizbehörde steht.
"Gewählte Schwarze Amtsträger (...) haben sich als unfähig erwiesen, die Armut, die Arbeitslosigkeit und den Mangel an elementaren Grundbedürfnissen wie menschenwürdige Wohnungen und ausreichende Nahrung wirkungsvoll zu bekämpfen."
Das gilt, so Taylor, auch für Barack Obama.
"Der Prozentsatz Schwarzer Arbeitslosigkeit blieb während der gesamten Amtszeit Obamas zweistellig. Sogar Schwarze College-Abgänger sind doppelt so oft arbeitslos wie weiße. (...) Das Durchschnittseinkommen Schwarzer [fiel] um 10,9 Prozent auf 33.500 Dollar pro Jahr. Im selben Zeitraum fiel das Durchschnittseinkommen Weißer um 3,6 Prozent auf 58.000 Dollar im Jahr."
Obamas Amtszeit demonstrierte laut Taylor nicht nur die Grenzen "Schwarzer präsidentieller Macht", sondern, dass Wahlen generell in vielen Fällen ein nur unzulängliches Mittel des politischen Kampfes sind. Mit den von ihr zitierten Worten Martin Luther Kings heißt das:
"Wir kämpfen seit Langem mit aller Kraft um Integration. Aber ich habe immer mehr das Gefühl, dass wir uns in ein brennendes Haus integrieren."
Mit Keeanga-Yamahtta Taylors Buch liegt eine der scharfsinnigsten und kämpferischsten Rassismusanalysen vor, die zurzeit auf Deutsch zu haben sind. Der immer wieder thematisierte Balanceakt zwischen entradikalisierender staatlicher Vereinnahmung einerseits und identitärem Aktionismus andererseits macht das Buch überdies zu einem anregenden Lehrstück für linke Projekte und Bewegungen. Und obwohl sie ihre Arbeit abgeschlossen hat, bevor Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde, ist es auch eine äußerst aktuelle Studie, an deren Ende Taylor zu einem ebenso klaren, wie beunruhigenden Fazit kommt:
"Rassismus, Kapitalismus und Klassenherrschaft sind seit jeher miteinander verwoben. Es ist unmöglich, eines dieser Phänomene zu verstehen, wenn wir nicht alle berücksichtigen. Kann es in diesem System zu Schwarzer Befreiung kommen? Nein. Der Kapitalismus negiert Freiheit und damit die Befreiung von Schwarzen und allen anderen Menschen, die nicht direkt von seiner ökonomischen (Un-)Ordnung profitieren. (...) Es gibt wenig Hoffnung im heutigen Amerika."

Keeanga-Yamahtta Taylor: "Von #BlackLivesMatter zu Black Liberation"
Aus dem Englischen von Gabriel Kuhn
Unrast Verlag, 296 Seiten, 19,80 Euro

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