Studie über Missbrauch und Gewalt
In Einrichtungen der katholischen Kirche haben viele Kinder mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen Gewalt, Missbrauch und Misshandlungen erfahren. Das hat jetzt eine Untersuchung im Auftrag der Caritas über die Zeit von 1949 bis 1975 ergeben.*
Anne Francoise Weber: Sie wurden geschlagen, zum Essen gezwungen, zur Strafe in den dunklen Keller eingesperrt oder zu sexuellen Handlungen genötigt. Und es waren Kinder, die sich besonders schlecht wehren konnten, weil sie durch Behinderungen oder psychische Krankheiten beeinträchtigt waren. Erst langsam wird bekannt, wie viele Gewalterfahrungen Kinder bis in die 1970er-Jahre hinein in Einrichtungen der Behindertenhilfe gemacht haben.
In Berlin hat die Caritas am vergangenen Donnerstag eine Tagung zu diesem Thema organisiert, genauer gesagt: zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der katholischen Behindertenhilfe in Westdeutschland zwischen 1949 und 1975. So lautet der Titel der Studie, die von der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie in Auftrag gegeben und dort vorgestellt wurde. Geleitet hat diese Studie Annerose Siebert, Professorin für Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule Ravensburg-Weingarten. Sie hat mit ihrem Team zunächst Betroffene interviewt, daraus einen Fragebogen entwickelt und schließlich rund 300 standardisierte Interviews ausgewertet.
Ich habe vor der Sendung mit Annerose Siebert gesprochen und sie zunächst gefragt, ob es nicht sehr schwierig ist, Menschen mit Behinderungen, zum Teil auch schon höheren Alters, zu solchen schmerzhaften Erinnerungen zu befragen.
Positive Resonanz bei den Betroffenen
Annerose Siebert: Die Befragung von Menschen mit kognitiven Einschränkungen ist durchaus möglich. Was es gilt zu berücksichtigen, ist, dass die Fragen - sowohl eben im qualitativen Studienteil, die Leitfragen, die wir gestellt haben, als auch im standardisierten Studienteil, der Fragebogen - dass diese Fragen eben formuliert wurden in Leichter Sprache, also sehr verständlich, sehr anschaulich, ohne Fremdwörter, gut erklärt. Und in dieser Form der Leichten Sprache ist es durchaus möglich, Menschen mit kognitiven Einschränkungen zu befragen.
In Bezug auf die Thematik ist es so, dass wir auf ein hohes Entgegenkommen gestoßen sind bei den Personen, mit denen wir sprechen konnten, dass sie froh waren, dass wir sie gefragt haben zu der Zeit damals. Wir haben gefragt, wie war es früher. Uns kam großes Interesse entgegen, eine große Offenheit. Und es ist immer wieder auch signalisiert worden, wie gut es ist, dass wir von außen kommen und diese Fragen stellen und die Möglichkeiten geben, über die damalige Zeit zu sprechen.
Weber: Die Ergebnisse sind ja erschreckend, 70 Prozent der Befragten haben körperliche Gewalt erlebt, 60 Prozent psychische Gewalt und 30 Prozent sexuelle Gewalt. Das sind ja enorme Prozentzahlen. Repräsentativ sind die aber nicht, oder Sie können nicht sagen, ob die repräsentativ sind?
Siebert: Es ist so, dass wir in der Studie eine Limitation vornehmen müssen. Also, die Zahlen lassen sich auf keinen Fall hochrechnen, sondern sie sind begrenzt auf diese Studie. Die Grundgesamtheit der Studie waren die Einrichtungen im Fachverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie, die an der Studie teilgenommen haben und die sowohl im Untersuchungszeitraum, also von 1949 bis 1975, Wohnangebote für Menschen mit Behinderung vorgehalten haben, als auch noch heute Wohnangebote vorhalten.
Auf die Teilnehmer der Studie lassen sich die Zahlen durchaus verallgemeinern. Wir haben 339 standardisierte Interviews geführt und das bezieht sich auf eine Grundgesamtheit von ungefähr 2.600 Personen insgesamt auf 40 Einrichtungen, dafür kann man sagen, ja, es lässt sich verallgemeinern. Es lässt sich auf keinen Fall für die katholische Behindertenhilfe insgesamt hochrechnen und es sind keine Angaben über die Situation von Kindern und Jugendlichen in der Psychiatrie.
Viele Betreuer waren keine Fachkräfte
Weber: Wird denn in Ihrer Studie auch deutlich, was die Gründe für diese Gewaltanwendungen waren? Im Vorwort sprechen Caritas-Vertreter unter anderem von der Überforderung der Ordensleute, die diese Einrichtungen oft geführt haben. Ist das nicht ein bisschen zu einfach?
Siebert: Also, man muss sicher die institutionellen Rahmenbedingungen berücksichtigen. Und die Gruppen waren groß. Es waren Zahlen zwischen 20 und 30 Personen auf einer Gruppe, Einzelne haben gerade in der Nachkriegszeit auch von 40 bis 45 Personen auf einer Gruppe berichtet. Eine Gruppe bedeutete dann manchmal sogar auch einen Schlafsaal. Also, das heißt, sie hatten auch Schlafsäle, in denen zehn bis 30 Personen, eben manchmal auch bis zu 40 Personen übernachtet haben. Die Mitarbeiter-, Personalsituation war katastrophal, es waren durchschnittlich zwei Mitarbeiterinnen in der Einrichtung auf einer Gruppe und das waren in der Regel Ordensschwestern in den ersten zwei Jahrzehnten, und es waren in der Regel nicht ausgebildete Kräfte.
Also, wenn Sie sich das vor Augen halten, Gruppensituation und Personalschlüssel, ist klar, dass die Rahmenbedingungen sehr, sehr schwierig waren. Insgesamt war auch die bauliche Situation schwierig, es war von der Ausstattung in den Räumlichkeiten katastrophal, also institutionelle Rahmenbedingungen auf jeden Fall sehr schwierig. Aber natürlich, das ist nicht ausreichend. Denn wir hatten in der damaligen Zeit ein durchaus anderes Verständnis von Pädagogik und auch von Legitimation von Gewalt in der alltäglichen Erziehungspraxis.
Hinzu kommt aber eben gerade in den konfessionellen Einrichtungen, dass das Unvermögen letztendlich auch, in der Pädagogik sinnvoll arbeiten zu können, weil man sich eben wenig an pädagogischen Konzepten orientiert hat, sondern ganz stark auf Alltagswissen sich bezogen hat, sehr stark auch sinngeladen sich an Werten orientiert hat, dass all das, was sowieso schon schwierig war, dann noch überhöht wurde durch diesen Anspruch, es im wahren Glauben richtig zu machen.
Und das führt dann schon auch dazu, dass wir eine Dopplung haben von zwei Systemen. Also einmal eben dieses geschlossene System Heim mit all den schwierigen Rahmenbedingungen, auch der schwierigen Zuweisungspraxis, und aber eben auch dem geschlossenen System Kirche und Religion, das auch gar nicht hinterfragt wurde, was hingenommen wurde und wo die vor allen Dingen Ordensschwestern und -brüder einfach ihre klösterlichen Regeln mitgenommen haben in die konfessionelle Erziehung der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung. Und die war geprägt von Gehorsam, Ordnung, Sauberkeit, Leibfeindlichkeit, dem Verneinen von Sexualität. Sie war einfach geprägt von Unterordnung. Und wenn wir diese beiden Systeme zusammen betrachten, dann haben wir da ein Klima, in dem einfach auch Gewalt durchaus gedeihen konnte.
Strafen im Namen Gottes
Weber: Und konnten Sie herausfinden, ob Religion da auch ganz bewusst zur Legitimierung von Gewalt gebraucht wurde? Also dass man wirklich die Strafen als von Gott gegeben dargestellt hat oder gar noch Bibelstellen zitiert hat?
Siebert: Auch das haben wir in Einzelinterviews … Also, diese 45 Interviews, die wir geführt haben, haben wir einige Beispiele, die genau darauf Bezug nehmen eben, dass im Namen Gottes gestraft wurde. Es ist aber so, dass insgesamt in den Interviews – das ist auch ganz interessant – relativ wenig von Religion gesprochen wird, weil die Religion so selbstverständlich zum Alltag gehörte, dass die Kinder auch eben hauptsächlich in Bezug – oder eben die jetzigen Erwachsenen über ihre Zeit als Kinder – auf Religion dann davon gesprochen haben, wenn es eben um Strafen ging oder wenn es um den täglichen oder wöchentlichen Kirchgang, die Beichten, das Beten, den Zwang zur Beichte ging.
Weber: Ein Faktor, der die Gewaltausübung sicher begünstigt hat, war die isolierte Lage vieler Einrichtungen. Und Sie haben ja auch schon vom geschlossenen System Heim gesprochen. Wie ist das denn heute? Ist das nicht immer noch so, dass das ein ziemlich geschlossenes System ist, dass diese Einrichtungen oft am Dorfrand oder gar irgendwo im Wald liegen und dass da wenig Außenkontakt besteht?
Siebert: Also, die Situation von früher war extrem, das war ein ganz deutliches Drinnen und Draußen. Und die großen Einrichtungen, die Sie vermutlich da auch vor Augen haben, die lagen ja tatsächlich außerhalb von Ortschaften oder an den Ortsrändern. Die Situation heute ist ja die, dass wir in dem Bereich der Behindertenpolitik und der professionellen Behindertenhilfe zur Deinstitutionalisierung gekommen sind und dass wir auf dem Weg sind, diese Systeme einfach auch zu hinterfragen und zu verändern. Also, sie lassen sich so, wie sie jetzt existieren, nicht mehr legitimieren, auch nicht im Rahmen der Behindertenrechtskonvention.
Also, Einrichtungen in dieser Form, wie wir sie in den 50er-, 60er-, 70er-Jahren haben, die haben wir nicht mehr. Was wir aber haben, sind natürlich immer noch Systeme, in denen man sehr kritisch schauen muss, inwieweit die Macht- und Hierarchiestrukturen innerhalb der Organisation reflektiert werden, und geht es um die Organisationsinteressen oder geht es um die Interessen der Menschen, für die diese Organisationen eigentlich da sein sollten?
Heute gibt es Konzepte zur Gewaltprävention
Weber: Und gibt es denn konkrete Maßnahmen der Gewaltprävention?
Siebert: Es gibt verschiedenste Konzepte, es gibt sehr gute Konzepte in Bezug auch auf die unterschiedlichen Formen von Gewalt. Das ist unterschiedlich ausgeprägt in den einzelnen Einrichtungen, bei den einzelnen Trägern. Es ist aber so, [dass] das eine auf Papier zu haben und das andere tatsächlich in der Umsetzung zu haben, einfach auch noch mal zwei paar verschiedene Schuhe sind. Und es ist sicher dahin zu schauen, auch Unterstützung zu geben, inwieweit die schon vorhandenen Konzepte verbreitet werden können, umgesetzt werden können, da auch personelle Ausstattung für da ist.
Und letztendlich sollte man natürlich in die Richtung eines inklusiven Sozialraums denken und aus den Einrichtungen hinaus in den Sozialraum gehen und aus den Sonderstrukturen hinaus in die ganz normalen Regelstrukturen gehen. Also, jede Form von Weiterentwicklung, die nicht eine Integration in die Regelstrukturen zum Ziel hat, ist eigentlich eine Form, die dieses System auch weiterhin gefährlich sein lässt.
Weber: Bei der Vorstellung der Studie am Donnerstag waren viele Betroffene anwesend und Sie selbst haben einen Teil Ihres Vortrags in Leichter Sprache gehalten. Es gab danach auch noch Gelegenheit zur Aussprache. Welche Reaktionen kamen denn von den Betroffenen auf die Vorstellung Ihrer Studie?
Siebert: Es sind viele auf mich zugekommen und haben Rückmeldung gegeben, dass sie sich in dem, was geschildert wurde, einfach auch selber mit ihrer Geschichte wiedergefunden haben. Es war am Nachmittag noch eine Podiumsdiskussion auch von ehemaligen Heimkindern, die auch aus ihrer eigenen Perspektive noch mal den Alltag geschildert haben, die auch eben das bestätigt haben.
Insgesamt kamen viele Rückmeldungen, die Wert darauf gelegt haben, einfach auch noch mal zu sagen, wie wichtig es ist, dass es endlich laut ausgesprochen wurde, dass es jetzt da steht, dass es schriftlich ist, dass es ein Stück weit einfach auch durch diese Form dann eine Möglichkeit gibt, weiter darüber zu sprechen. Also insgesamt sehr, sehr positive Rückmeldungen und durchaus einfach auch eine Wertschätzung der Arbeit gegenüber.
Behinderte haben weniger Lobby als andere
Weber: Vor einer Woche haben sich Vertreter von Bund, Ländern und Kirchen auf den Fonds Anerkennung und Hilfe geeinigt. Der soll eine Anerkennungssumme an Menschen zahlen, die eben zwischen 1949 und 1975 – zumindest für die Bundesrepublik, 1990 ist es dann für die DDR – in einer Einrichtung der Behindertenhilfe oder Psychiatrie waren.
Der Fonds für andere Heimkinder also, in Einrichtungen der – in Anführungszeichen – normalen Erziehungshilfe, existiert schon seit 2012. Dass da vier Jahre noch vergehen mussten, zeigt das, dass Menschen mit Behinderung eben immer noch weniger Lobby haben und ihre Rechte weiterhin doch viel weniger respektiert werden?
Siebert: Ja, ganz eindeutig. Das würde ich auf jeden Fall so sehen. Was sich daran eben wieder auch zeigt, ist die randständige Stellung von Menschen mit Behinderung, sowohl eben auch damals als auch heute, eben in dieser Nichtberücksichtigung bei den Fonds, die Sie gerade angesprochen haben. Menschen mit Behinderung in ihrer Bürgerrolle wahrzunehmen, also als gleichberechtigtes Gegenüber, das ist das, was eigentlich unser Ziel sein sollte, und das ist das, was sich jetzt hier in diesem Fonds einfach auch zeigt.
Das hat lange gedauert, bis jetzt annähernd eben etwas Ähnliches geschaffen wurde wie das, was eben für Kinder, die in der Erziehungshilfe gewesen sind, schon vorliegt. Es ist gut, dass es den Fonds jetzt gibt, denn es eilt, es ist tatsächlich an der Zeit. Also, in der Studie wurde auch sehr deutlich, das Durchschnittsalter der Befragten lag bei 65 Jahren und sie waren zum Teil schon hochaltrig, also weit über 80. Und da wird sehr schnell klar: Wenn das noch einige Jahre geht, ist es für viele einfach auch zu spät.
Weber: Vielen Dank, Annerose Siebert, Professorin für Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule Ravensburg-Weingarten und Leiterin der Studie "Heimkinderzeit". Diese ist erschienen im Lambertus-Verlag, umfasst rund 220 Seiten und kostet 25 Euro. Es gibt im gleichen Verlag auch eine Zusammenfassung in Leichter Sprache.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
*Anmerkung: Der Teasertext wurde geändert, da er missverständlich formuliert war und so den Eindruck erweckte, als habe es nur bis in die 1970er-Jahre hinein Missbrauchsfälle gegeben. In Wirklichkeit hat die Studie nur den Zeitraum von 1949 bis 1975 untersucht.