Kateřina Tučková: "Gerta. Das deutsche Mädchen"

Eine deutsch-tschechische Leidensgeschichte als Bestseller

Im Vordergrund das Cover von Kateřina Tučkovás "Gerta", im Hintergrund ein Wald im Nebel.
Kateřina Tučková schildert in "Gerta" lange tabuisierte Kapitel deutsch-tschechischer Geschichte. © Klak-Verlag, Unsplash/ Chris Barbalis
Von Olga Hochweis · 26.11.2018
Ende der 1930er-Jahre in der Tschechoslowakei: Kateřina Tučková verfolgt in "Gerta" den Leidensweg einer Deutsch-Tschechin, die 70 Jahre Ausgrenzung und Unrecht erlebt. Der Roman ist lebendig und detailgenau erzählt – wenn auch nicht ohne Klischees.
Der Roman "Gerta. Das deutsche Mädchen" nimmt seinen Ausgangspunkt Ende der 1930er-Jahre, als im Zuge des Münchner Abkommens die souveräne Tschechoslowakei zum Nazi-Protektorat Böhmen und Mähren erklärt wird. Nach Kriegsende folgt die Rache: Die Beneš-Dekrete beenden das jahrhundertelange Zusammenleben von Deutschen und Tschechen innerhalb weniger Monate. Drei Millionen Menschen müssen 1945/46 ihre Heimat verlassen – verjagt und ohne Anspruch auf Entschädigung.
Der Hass vieler Tschechen gegen die deutschsprachige Bevölkerung entlädt sich in Gewaltexzessen wie beim Brünner Todesmarsch, bei dem mehr als 20.000 Menschen – überwiegend Frauen, Kinder, alte und kranke Menschen – zu Fuß Richtung Österreich getrieben werden. Hunderte werden ermordet oder sterben an Entkräftung.
Lange Zeit wurden solche Kapitel der deutsch-tschechischen Geschichte tabuisiert. Schon mit dem Originaltitel ihres Romans "Die Vertreibung von Gerta Schnirch" bezieht die 1980 geborene Tučková Stellung, indem sie einen Begriff wählt, der jahrzehntelang verpönt war. Zuvor war offiziell von "Abschiebung" die Rede.

Tučková fragt nach kollektiver und persönlicher Schuld

Und auch weit über den Romantitel hinaus sucht Kateřina Tučková Aufklärung. Sie stellt Fragen nach kollektiver und persönlicher Schuld von Tschechen und Deutschen. Ihr Buch begleitet die Titelheldin über einen Zeitraum von mehr als 70 Jahren und zeigt Ausgrenzung und Unrecht als wiederkehrende Muster quer durch die Diktaturen.
Die Romanheldin Gerta, 1925 geboren und zweisprachig aufgewachsen als Tochter eines Deutschen und einer Tschechin, erlebt die politische Spaltung der Brünner Bevölkerung im Mikrokosmos ihrer eigenen Familie. Der Vater, ein glühender Nazi, verbietet ihr nach dem Tod der Mutter die tschechische Sprache. Mit den Niederlagen des Dritten Reichs korreliert sein persönlicher Absturz in Gewalt und Alkohol.
Gerta wird ungewollt schwanger und überlebt mit ihrem Baby den Brünner Todesmarsch aufgrund von Zufällen, die es ihr ermöglichen, in der kommunistischen Tschechoslowakei zu bleiben. Die Traumata aber setzen sich fort. Gerta muss fortan ihre Herkunft verleugnen, wird beruflich und privat benachteiligt. Erst die Enkeltochter, die sich für die Versöhnung von Deutschen und Tschechen engagiert, kann die Verbitterung ihrer Großmutter mildern.

"Gerta" wurde Bestseller in der Tschechischen Republik

Der detailgenauen und lebendigen Schilderung dieser umfangreichen Romanhandlung liegen ausführliche Quellen-Recherchen der Autorin und Zeitzeugen-Berichte zugrunde. Sie kontrastieren mit fiktiven Briefen und wechselnden Innenperspektiven zentraler Figuren aus Gertas Umfeld. Leider bleiben aber Klischees und Kolportage nicht aus.
Trotz manch' fragwürdiger Konstruktion und einiger Plakativität bleibt der Roman lesenswert, weil er der Anonymität von Geschichte ein individuelles Gesicht gibt. In der Tschechischen Republik wurde das Buch, das im Original bereits 2009 erschien, ein Bestseller. Und es inspirierte nicht zuletzt eine tschechische Initiative für Versöhnung, die seit 2015 alljährlich an den Brünner Todesmarsch erinnert.

Kateřina Tučková: "Gerta. Das deutsche Mädchen"
Aus dem Tschechischen von Iris Milde
Klak Verlag, Berlin 2018
548 Seiten, 19,90 Euro

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