Karosh Taha: "Beschreibung einer Krabbenwanderung"

Vertauschte Rollen

Buchcover Karosh Taha "Beschreibung einer Krabbenwanderung"
Buchcover Karosh Taha "Beschreibung einer Krabbenwanderung" © DuMont/ Deutschlandradio
Karosh Taha im Gespräch mit Andrea Gerk · 20.03.2018
Ein gebrechlicher, abwesender Vater, eine depressive Mutter - und Kinder, die die Verantwortung in einer Familie übernehmen, die vom Irak nach Deutschland gekommen ist: Das ist die Grundsituation in Karosh Tahas Debütroman. Die Autorin meint, das sei typisch für Migrantenfamillien, da die Kinder sich schneller zurechtfinden in einem neuen Land.
Andrea Gerk: Eine junge Studentin, Sanaa, mit zwei Liebhabern in einer Hochhaussiedlung – das könnte ein ganz normaler Großstadtroman sein. Aber Sanaas Familie ist aus dem Irak nach Deutschland gekommen. Die Mutter leidet unter Depressionen, der Vater ist auch gebrechlich und irgendwie immer abwesend – eigentlich tragen die Kinder alle Verantwortung, und die Rollen in dieser Familie sind verkehrt.
Eine Geschichte aus der Parallelgesellschaft erzählt Karosh Taha in ihrem Debütroman "Beschreibung einer Krabbenwanderung". Karosh Taha kam 1987 in einer Kleinstadt im Nordirak zur Welt, und sie lebt seit 1997 mit ihrer Familie im Ruhrgebiet, wo sie auch als Lehrerin an einem Essener Gymnasium tätig ist.
Ich bin jetzt mit Karosh Taha in einem Studio in Düsseldorf verbunden. Guten Tag, Frau Taha!
Karosh Taha: Hallo! Danke für die Einladung!
Gerk: Ja, gerne! Dieses Szenario, das ich gerade beschrieben habe, so eine enge, oft etwas beklemmende Situation in einer eingewanderten Familie, ist das etwas, was sie aus eigener Erfahrung kennen?
Taha: Ja, zum Teil. Also wir sind eine Großfamilie, und wir sind aus dem Irak nach Deutschland eingewandert. Und wenn man nach Deutschland kommt, ist es meistens so, dass man auf engstem Raum wohnt, weil eben einfach von den Ämtern nicht so viel Wohnraum geboten wird. Und dann ist man gezwungenermaßen auf engstem Raum und muss so aushalten und zusammenleben.
Gerk: Und in Ihrem Buch ist ja diese Kontrolle auch noch auf das ganze Haus ausgedehnt. Das ist so eine Hochhaussiedlung, die auch irgendwie tausend Augen hat, aber auch in der Familie wird stark kontrolliert. Da gibt es dann noch eine Tante, die wohnt ein Stockwerk höher, aber mischt sich auch in alles ein. Dem Mädchen bleibt ja eigentlich nur, so ein heimliches Doppelleben zu führen. Was macht es mit Menschen, wenn sie sich so verstecken müssen und immer heimlich tun müssen?

Ständig unter Beobachtung

Taha: Das ist natürlich eine spezielle Situation in dem Fall. Also das ist natürlich auch, mit diesem Hochhaus und mit diesen Augen, die ständig das Mädel überwachen, das ist natürlich auch eine Metapher dafür, dass ihre Community, diese kurdische Community, die sich auf engstem Raum versammelt hat, eben sich selber beobachtet und schaut, dass keiner irgendwie die Regeln bricht und keiner sich mehr rausnimmt, als er sollte, und dass man irgendwie auch zusammenhält – aber eben auch sich immer beobachtet.
Und dadurch, dass man sich kennt – das ist halt wie so eine Dorfsituation –, dass man dann eben auch ein Auge auf alle möglichen Menschen hat, und das ist für die Protagonistin natürlich nicht so schön, weil sie eben auch ihr eigenes Leben eigenständig und frei leben möchte. Und dann diese ständige Kontrolle, auch durch die Nachbarn und durch die Tante, das zehrt natürlich an ihren Nerven.
Und ihre Konsequenz daraus ist, einfach nur aus diesem Viertel zu fliehen. Aber sie kann natürlich nicht für immer fliehen, sie muss auch immer wieder zurückkehren, weil eben ihre kleine Schwester noch da ist und ihre Mutter, um die sie sich ja unbedingt kümmern möchte.
Und die Erinnerungen, die sie noch an den Irak hat, halten sie natürlich auch daran fest, dass sie immer wieder zu ihren Eltern zurückkehrt und sich eigentlich um sie kümmern möchte, um sie wieder in ihre Rollen zu führen, nämlich Eltern sein – und Eltern, die sich um ihre Kinder kümmern sollen.
Gerk: Und das ist ja da umgedreht in Ihrem Roman. Da sind ja eigentlich die Kinder eben die, die Verantwortung tragen, die sich um ihre Eltern kümmern – da sind die Rollen vertauscht. Ist das eigentlich etwas, wo Sie sagen würden, das ist oft so in Migrantenfamilien, das ist eigentlich ein typisches Schicksal, weil die Kinder oft schneller Deutsch können und sich eben dann auch schneller in der deutschen Gesellschaft bewegen können?

Die Eltern leiden unter dem Verlust der Heimat

Taha: Ja, also das ist, glaube ich, ganz typisch. Die Eltern, die Elterngeneration, die hierher kommt, die macht das ja auch hauptsächlich wegen der Kinder. Sie wollen den Kindern natürlich eine gute Zukunft ermöglichen und opfern dann eben auch ihr Leben in der Heimat, um hierher zu kommen, und leiden dann natürlich unter diesem Verlust.
Und es ist dann klar, wenn Kinder, die hier aufwachsen, dass das ihr Leben ist, dass sie es ja nicht anders kennen. Und die Eltern, die aber eben noch diese Identität oder die Werte und Normen aus der Heimat noch mitbringen und eben nicht die Möglichkeit haben, sich hier auszuleben, dass die dann verdrängt werden, dass sie dann eben hilfebedürftig sind und dann auf die Kinder angewiesen sind.
Wobei das hauptsächlich auf Sprache bezogen ist. Weil die Kinder eben schnell die Sprache lernen, ist es für sie einfacher, sich in diesem Leben zu bewegen und für die Eltern, die dann eben stillstehen und dann in dieser Erinnerung stecken bleiben im Grunde …
Gerk: Das fand ich auch sehr bewegend an Ihrem Text, dass diese ältere Generation ja auch ganz viele unbearbeitete Probleme und innere Konflikte da mit sich herumschleppt. Da habe ich gedacht, das ist vielleicht auch etwas, das hierzulande unterschätzt wird oder zu wenig problematisiert wird, wenn es darum geht, wie sich Menschen hier überhaupt integrieren können. Dass die oft ja gar nicht – man denkt ja oft, die wollen das nicht, die wollen hier mit dieser Kultur nichts zu tun haben –, aber die können offenbar, ja so zumindest, wie Sie es beschreiben, auch gar nicht aus ihrer Haut raus, weil sie traumatisiert sind, weil sie irgendwie schwere innere Konflikte irgendwie haben.

Man kann seine eigene Geschichte nicht einfach über Bord werfen

Taha: Ja, also klar, einerseits wegen der Konflikte, andererseits ist das natürlich auch ihre Identität. Sie können nicht von einem Tag auf den anderen ihre Normen, ihre Kultur wegwerfen und sagen, jetzt sind wir in einem neuen Land, und jetzt sind wir komplett andere Menschen. Das ist einer der Kernpunkte, warum man meint, Integration würde hier nicht funktionieren, weil die sich irgendwie nicht anpassen.
Aber es geht ja gar nicht um das Anpassen, es geht darum, dass diese Menschen einfach, dass ihr Hintergrund und ihre Geschichte einfach so erst mal verstanden werden muss und akzeptiert werden muss, um überhaupt irgendwie davon zu sprechen, wie wir diese Menschen dann integrieren können.
Gerk: Was ja ein auffallendes Thema in Ihrem Roman ist, ist das Essen. Da ist ja die Mutter, die isst nicht, dann bringen die Nachbarn teilweise Essen für die kranke Frau vorbei. Aber darin, dass sie eben da immer Teller hinstellen, liegt ja auch so eine Kritik, weil sie eben damit quasi vermitteln, die Frau kümmert sich nicht ordentlich um ihre Familie. Welche Rolle spielt Essen und Ernährung in der Welt Ihrer Protagonisten und vielleicht auch in Ihrer eigenen?
Eine Gruppe von Freunden essen und trinken gemeinsam
Die Mutter kocht nicht für die Kinder. Und das halten ihr die Nachbarn vor.© imago stock&people
Taha: In der Welt der Protagonisten, und ich glaube, das ist ein menschliches Bedürfnis, dieses Essen, und zwar gut zu essen, und natürlich am liebsten von der Mutter zubereitet oder von dem Vater, und in diesem Fall, in dieser Kultur ist es eben die Mutter, die dafür verantwortlich ist, für die Kinder zu sorgen. Und dazu gehört eben, lecker zu Essen.
Und als die Mutter eben dieser Aufgabe nicht nachkommt, verstehen dann natürlich alle Nachbarn es so, dass sie sich nicht um die Kinder kümmert, dass sie eben ihre Liebe nicht zeigen kann oder ihre Fürsorge nicht zeigen kann. Und dann sind diese Teller, wie Sie es schon richtig gedeutet haben, eher ein stiller Vorwurf an die Mutter, die sich da nicht um ihre Kinder kümmert und sie bekocht. Genau, so ist das zu verstehen.
Gerk: Das kennt man ja auch aus der eigenen Familie, dass die Mutter dann extra was kocht, was man besonders gerne hat, wenn man da mal zu Besuch kommt. Ist das bei Ihnen auch so? Wird da auch gerne gekocht und viel gegessen?

Essen als verbindendes Element

Taha: Ja, es wird gerne gekocht, gerne gegessen. Aber ich glaube, das ist nichts typisch Migrantisches, sondern das ist, glaub ich, so kulturübergreifend, dass man gerne kocht und gerne isst und das am liebsten gemeinsam tut. Das ist etwas, was, glaube ich, in jeder Gemeinschaft so ein verbindendes Element ist.
Gerk: Ihr Buch ist ja ohnehin keine Autobiografie, sondern eben ein Roman. Warum haben Sie sich dafür entschieden? Sie hätten ja auch ein Sachbuch oder eben etwas, was tatsächlich auch als Lebensbeschreibung auch erkennbar gewesen wäre, schreiben können. Was hat Sie in die Welt des Romanschreibens gezogen?
Taha: Für mich ist es total wichtig, mich nicht in den Mittelpunkt zu stellen, sondern mir eben Gedanken um bestimmte Themen zu machen – und über bestimmte Menschen. Und es geht natürlich um die Frage: Was wäre wenn? Und bei diesem Roman ist es eben: Was wäre, wenn die Mutter depressiv ist und die Tochter aber eben zwischen dem eigenen Glück und dem Unglück der Eltern steht und sich irgendwie entscheiden muss? Und diese Zerrissenheit einfach zu zeichnen.
Und das war mir total wichtig, dass ich auch einfach in meinem Schreiben nicht im Mittelpunkt stehe, sondern das Glück dann habe, mich in andere Figuren zu versetzen oder eben mir Biografien auszudenken und zu konstruieren, und das ist der Spaß beim Schreiben.
Gerk: Sie sind ja gelernte Lehrerin und unterrichten an einem Gymnasium, oder haben an einem Gymnasium unterrichtet, und Ihr Buch ist ja auch drastisch stellenweise. Haben Sie sich gefragt, wie Ihre Schüler das wohl lesen werden?
Taha: Nein, das habe ich mich gar nicht gefragt. Aber darum mache ich mir gar keine Sorgen, weil Schüler, wenn sie irgendwelche drastischen Szenen haben wollen, dann ist glaube ich das Buch das Letzte, zu was sie greifen würden. Da bieten sich andere Möglichkeiten an.
Gerk: Das stimmt! Jetzt will Ihre Figur ja unbedingt auch frei sein. Sie studiert und es ist nicht klar, ob sie das schafft, da wirklich sich aus diesen Verbindungen zu lösen. Ihnen ist es ja offenbar gut gelungen. Sie haben studiert in Deutschland und in den USA – Sie haben also so einen richtigen Bildungsaufstieg hingelegt. Was braucht es dazu? Wie kann das gelingen? Wie ging das bei Ihnen?

Gelungener Bildungsaufstieg

Taha: Ja, Aufstieg ist es tatsächlich. Wenn man nach Deutschland wandert, ist man quasi auf der sozialen Leiter ganz unten – von daher kann man wahrscheinlich von einem Aufstieg sprechen. Im Irak wäre es für mich natürlich, und für meine Familie auch, klar gewesen, dass ich studiere. Hier ist es dann irgendwie eine Ausnahme oder etwas total Spezielles, wenn dann ein Mensch mit Migrationshintergrund studiert.
Also ich hatte ganz viel Unterstützung durch meine Eltern, durch meine Familie, ich hatte ganz viel Unterstützung von Lehren, von Schülern. Daher ist mir das natürlich auch leicht gefallen. Also das war nicht nur durch meine Kraft irgendwie bewältigt, sondern eben ganz viele liebe Menschen, die mich da unterstützt haben.
Gerk: Und haben Sie jetzt Spaß am Romanschreiben bekommen? Geht das jetzt weiter?
Taha: Ja, auf jeden Fall! Also das ist einer meiner Träume gewesen – oder der Traum –, dass ich schreibe, und ich werde nicht damit aufhören, na klar!
Gerk: Karosh Taha, vielen Dank für dieses Gespräch!
Taha: Ja, ich danke Ihnen!
Gerk: Und der Roman, über den wir gesprochen haben, ist unter dem Titel "Beschreibung einer Krabbenwanderung" im DuMont Verlag erschienen. 236 Seiten kosten 22 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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