Karl Ove Knausgård: "Der Morgenstern"

Die Welt ist aus den Fugen geraten

05:58 Minuten
Ein Mann mit kurzen grauen Haaren steht vor einer alten Backsteinmauer.
Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård lebt jetzt in London: Hier fand auch das Interview mit ihm statt. © IMAGO/TT/Beatrice Lundborg
Von Tobias Wenzel · 05.04.2022
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Nichts ist einfach im neuen Roman von Karl Ove Knausgård. Es gibt neun Icherzähler, Tote sind nicht wirklich tot, und ob es um Gott oder den Teufel geht, bleibt unklar. Besuch bei einem Autor, der trotz Welterfolgen an sich selber zweifelt.
Ein Morgen im Südosten Londons. Karl Ove Knausgård spaziert auf dem Bürgersteig und blickt nach oben: "Wenn der Himmel klar wäre, könnten wir den Morgenstern sicher sehen", sagt er.
Aber der Himmel über Hither Green, dem Viertel, in dem der norwegische Autor mit seiner Patchwork-Familie lebt, ist leider komplett bewölkt. Der reale Morgenstern ist allerdings wohl nicht identisch mit der mysteriösen Himmelserscheinung in Knausgårds neuem Roman „Der Morgenstern“.

Neun Icherzähler und unzählige Krebse

Der spielt an zwei Sommertagen in Norwegen. Alle neun Icherzähler beobachten das seltsame Licht am Firmament. Ist es etwa Vorbote für etwas Unheilvolles?
Wir betreten das Lieblingscafé des Autors und gehen auf der Suche nach Ruhe in ein Hotelzimmer im Stock darüber. Im Roman treten Tiere, wie im Horrorfilm, in unheimlichen Massen auf.

Ich ging näher heran und sah, dass es Krebse waren. Hunderte Krebse.
Sie gaben tickende Laute von sich.
Ach du Scheiße.
Was war denn das?

Auszug aus "Der Morgenstern" von Karl Ove Knausgård

„Einmal bin ich an einem Sommertag in Schweden Zeuge von abertausenden Marienkäfern geworden. Marienkäfer sind schön. Jedes Kind liebt sie. Aber die Käfer waren selbst im Haar und auf dem T-Shirt. Und wenn man einen Schritt gemacht hat, haben die Marienkäfer unter der Sohle geknirscht. Die Tiere waren einfach überall. Es hat sich angefühlt, als würde der Weltuntergang über mich hereinbrechen. Und dieses Gefühl herrscht auch in meinem Roman: das Gefühl, dass die Welt aus den Fugen geraten ist“, erzählt Knausgård.

Jesus und Teufel zugleich

Tote scheinen nicht wirklich tot zu sein. Knausgård spielt mit unserer Angst vor dem Unbekannten. Nicht zufällig hat der Autor seinem zugleich sehr wirklich und sehr entrückt erscheinenden Roman einen Satz aus der Bibel vorangestellt. Der Morgenstern steht dort nämlich nicht nur für Jesus, sondern auch für den Teufel: „Außerdem gibt es diese gnostische Theorie, derzufolge der biblische Gott in Wirklichkeit der Teufel ist. So etwas mag ich: Wenn alles auf den Kopf gestellt wird.“
Die Icherzähler, etwa eine Pfarrerin, die ihr Privatleben nicht mehr erträgt, ein Literaturprofessor, der wie der Autor einst selbst an seiner bipolaren Frau verzweifelt, oder ein Journalist, der zu Morden in der Satanistenszene recherchiert – sie alle verbindet oft nicht viel mehr als der Blick zum Morgenstern, der die Apokalypse oder vielleicht auch eine frohe Botschaft ankündigt.

Die großen Fragen werden gestellt

Existiert Gott? Und gibt es ein Leben nach dem Tod? Aus dem konkreten Alltagsleben seiner Figuren entwickelt Knausgård die großen existenziellen Fragen. Dabei beschreibt er die Wirklichkeit minutiös, etwa, wie ein Ei in die Bratpfanne gleitet. Ganz anders als sein Lehrer Jon Fosse, der sprachliche Minimalist.
„Er ist ein Künstler. Ich komme mir eher wie ein Schriftsteller vor. Für mich ist es praktisch dasselbe, einen Zeitungsartikel zu schreiben oder einen Roman. Auch Fosse interessiert sich sehr für Religion. Aber Fosse trifft den Kern. Ich dagegen umkreise das Wesentliche nur. Ich beschreibe etwa, wie jemand Geld aus einem Geldautomaten zieht. Jon Fosse kann man mit einem großen Maler wie Francis Bacon vergleichen. Und mich mit einem Maler, der nur einen Kaugummi auf dem Bürgersteig oder Menschen malt, die ein Kino verlassen“, sagt Knausgård.

Ein Schriftsteller als Hellseher

Der Mann, der Millionen Leser begeistert hat, glaubt ernsthaft, er sei nicht gut genug. Während er „Der Morgenstern“ schrieb, sickerte, wie er sagt, das Bedrohliche des Lockdowns ins Buch ein. Als hätte er hellseherische Fähigkeiten, schrieb Knausgård danach, aber deutlich vor dem Ukraine-Krieg, einen Roman über Russland, in dem Gewalt und Instabilität herrschen.
Ich frage den Autor, was er jetzt tun würde, wenn er wüsste, dass es morgen einen Atomkrieg gäbe. „Ich würde dieses Hotelzimmer verlassen und zurück zu meiner Familie gehen und einen letzten Tag mit ihr verbringen“, antwortet er.
Früher hätte er, deutet er an, wohl zuerst an sein Werk gedacht. Aber das sei nun im Vergleich mit seiner Familie unbedeutend. Trotzdem hat er weiter große Pläne als Autor. „Der Morgenstern“ ist nämlich nur der Auftaktband zu einer Romanreihe. „Schwer zu sagen, wie viele Romane es werden. Mindestens fünf. Es werden wohl fünf“, sagt Knausgård und lacht.

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