"In mir steckt sehr viel Selbsthass"
Der Norweger Karl Ove Knausgård fasziniert das Publikum weltweit mit seinem autobiografischen Riesenroman, jetzt ist der fünfte Band "Träumen" erschienen. Wir haben mit ihm über peinliche Situationen, sein Selbstbild und über die Befreiung durch das Schreiben gesprochen.
Karl Ove Knausgård erlangt gerade Weltruhm, aber glücklich macht ihn das offenbar nicht: Er fühle sich noch immer als "mittelmäßiger, dummer, kleiner Schriftsteller", sagte er im Deutschlandradio Kultur: "In mir steckt sehr viel Selbsthass".
Nach der Veröffentlichung seines ersten Romans sei er "gierig nach Erfolg" gewesen, sagte Knausgård. Dann kam der Erfolg tatsächlich - und habe ihn nicht erfüllt. Zwischen Selbstbild und der "anderen Realität" des bekannten Autors lägen Welten.
Die Aufregung um seine Person erscheint Karl Ove Knausgård sinnlos
Der Hype um seine Person bei Lesungen erscheint ihm sinnlos, und dass so viele Menschen enthusiastisch auf seine Bücher reagieren, nimmt Knausgård mit Wohlwollen zur Kenntnis - andererseits sei diese Erfahrung aber auch beängstigend, sagte er.
Das Einzige, was ihm wirklich helfe, sei das Schreiben, sagte Knausgård. "Das Schreiben als solches, das erdet mich. Ich darf dann auch beim Schreiben nicht groß darüber nachdenken, wird man mich als Schriftsteller nach diesem Buch noch mögen? Wenn man anfängt, so zu denken, ist man tot als Schriftsteller."
Das Interview im Wortlaut:
Joachim Scholl: Er verzückt das Publikum weltweit, der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård mit seinem autobiografischen Riesenroman. Jetzt ist der fünfte Band, "Träumen", erschienen, und vor allem sind es Leserinnen, die hin und weg sind. Auch deutsche, hören Sie mal:
Frauen: Wenn ein Mann über sich selber schreibt, dann finde ich das ziemlich mutig, und das ist authentisch und das interessiert mich dann auch.
Ich habe endlich mal ein Buch gefunden, in dem ich mein Empfinden von meinem Leben wiederfinden kann.
Auch die Musik, sein kulturhistorisches Wissen ist großartig. Er zitiert ja auch sehr viel aus Kunst und Literatur. Also, ich finde ihn schon auch allgemeinbildend, so. Er ist nicht nur so Ich-bezogen und selbstverherrlichend, wie es oft so gesagt wird. Also, er ist sehr innig, sehr sensibel. Und das braucht die Welt ja.
Ja, also, dass ein Mann mal über Seiten weg von seinen Hemmungen und Verletzungen und Kränkungen erzählt, ist schon eher selten. Das macht ihn vielleicht auch für Frauen sehr sympathisch. – Das stimmt. – Also, nicht über den Seitenwechsel, sondern über Hunderte und Tausende von Seiten weg! Wie er geweint hat und wie er sich geschämt hat, wie er rot geworden ist und wie er sich nicht getraut hat, das zu sagen. Ich finde das großartig, dass er darüber schreibt, endlich tut das mal einer.
Scholl: Enthusiastische Leserinnen von Karl Ove Knausgård, in Norwegen ist es der größte Bestseller seit Jahrzehnten, mittlerweile in 14 Sprachen übersetzt, sechs Bände mit annähernd 4.000 Seiten, das ist "Min kamp", wie die Romanautobiografie im Original heißt, nach einem Ausspruch von Oma Knausgård, die immer gesagt hat: Das Leben ist ein Kampf. Auf Deutsch war dieser Titel aus verständlichem historischem Grund natürlich unmöglich und so sind in den letzten Jahren die Bände "Sterben", "Lieben", "Spielen", "Leben" erschienen und jetzt gibt es die fünfte Lieferung: "Träumen".
Karl Ove Knausgård ist bei uns zu Gast, wir sprechen Englisch mit ihm, willkommen, welcome to Deutschlandradio Kultur!
Karl Ove Knausgård: Thank you very much!
Scholl: Wir haben gerade die Stimmen von ersten begeisterten deutschen Leserinnen gehört. Ist das eigentlich überall, wo Sie hinkommen in der Welt, inzwischen dasselbe Phänomen, Herr Knausgård, dass vor allem Frauen so auf Sie abfahren?
"Die Bücher scheinen irgendetwas auszulösen"
Knausgård: Nun, ich weiß nicht, ob sie nach mir verrückt sind oder einfach nur nach den Büchern. Auf jeden Fall ist mir schon aufgefallen, dass sehr viele Menschen sehr enthusiastisch auf diese Bücher reagieren. Und das verwundert mich schon ein bisschen, weil ich ja schon seit längerer Zeit Schriftsteller bin, ich habe ja auch ganz andere Romane geschrieben und bisher war die Reaktion einfach nur, ja, dass man die Bücher gemocht hat, dass man sie interessant fand. Aber mit solchen Reaktionen war ich bisher noch nicht konfrontiert. Und die Leute fangen aber auch an, über ganz andere Dinge zu reden, nämlich über ihr Leben. Und da scheinen die Bücher irgendetwas auszulösen. Und ich finde das ganz großartig einerseits, es ist eine wunderbare Erfahrung, aber manchmal ist sie auch ein bisschen beängstigend.
Scholl: "Träumen", das ist das Porträt des Schriftstellers als junger Mann, die ersten Schritte des Karl Ove Knausgård mit Anfang 20 im Schreibstudiengang an der Universität Bergen.
Jetzt mal aber unter Männern, Herr Knausgård: Ist es tatsächlich so, dass Sie als Student sich in der Bibliothek Kunstbildbände ausgeliehen haben, damit aufs Klo gingen und sich auf Bilder von nackten Rubens- und Delacroix-Frauen einen runtergeholt haben?
Knausgård: Ja, es stimmt, warum würde ich darüber schreiben, wenn es nicht so gewesen wäre, das ist ja doch eine ziemlich peinliche Geschichte und ich hatte es schon wieder total verdrängt, dass das wirklich im Buch war! Nein, nein, es stimmt, das ist wirklich wahr.
Scholl: Ja, und dann kommt aber dazu, Herr Knausgård – und das ist wirklich speziell, wenn man als Mann das liest –, dass dieser Karl Ove mit 19 überhaupt das erste Mal Hand an sich gelegt haben will. Also, ich meine, bei jedem Jungen geht das mit 13 los und dann ist eigentlich kein Halten mehr, das glaubt Ihnen doch kein Mensch, Mister Knausgård, ich meine, wie waren Sie denn drauf?
"Wir reden über die wirklich peinlichsten Passagen des Buches"
Knausgård: Ja, jetzt diskutieren oder reden wir wirklich über die peinlichsten Passagen des Buches und ich habe darüber wirklich vorher niemals über dieses Thema mit irgendjemandem geredet. Und auch als ich es aufschrieb, das war wirklich im gesamten Schreibprozess der härteste Moment für mich, das überhaupt auch nur aufzuschreiben.
Und dann habe ich einen Freund angerufen, den ich öfter anrufe und dem ich öfter Passagen aus meinen Büchern vorlese, und sagte erst mal, du, ich muss dir was vorlesen, aber eigentlich kann ich es dir gar nicht vorlesen. Und er meinte: Nun, lies schon! Und ich las es dann vor, peinlich berührt, und er lachte fünf Minuten lang. Und er glaubte es mir, weil, es war ganz klar, das war so komisch, das kann man nicht erfinden, das muss einfach stimmen. Und ich war schon ein junger Mann voller Lust und voller Lust auf Sex und ich wollte auch Sex, aber irgendwie hatte ich mich eben vorher einfach nicht berührt, ich hatte es nicht getan!
Scholl: Ich möchte gern noch, Herr Knausgård, ein bisschen in dieser Junge-Männer-Welt bleiben. Ihr Buch spielt anfangs in den 80er-, in den späten 80er-Jahren und Ihnen zu Ehren habe ich mich heute extra angezogen! Ich knöpfe mal mein Hemd auf, gucken Sie mal, ich habe ein Rush-T-Shirt darunter von der kanadischen Progressive-Rock-Band. Über Rush wird nämlich an einer Stelle ernsthaft gesprochen. Ich habe mich sehr darüber gefreut und mich auch sofort erinnert, wie wichtig damals die Musik für einen war, welche Bands man hören musste oder nicht durfte, das war in Norwegen genauso wie überall, nicht wahr?
Knausgård: Nun, das war sehr speziell für die späten 80er-Jahre. Und da war Musik hören eben ... Und das mag heute total verrückt klingen, weil Leute heute anders Musik hören, bloß damals gehörte es zu einem Teil der Identität, es machte dich aus, es sagte etwas darüber aus, wer du warst. Und es gab eben auch richtige Regeln, was man zu hören hatte, was man um Gottes Willen nicht zu hören hatte. Und das waren wie so Regeln in einem geheimen Club, dem man da so beitrat. Und das betraf ja letztendlich dann nicht nur Musik. Also, am Anfang war es, du musstest die richtigen Singles gekauft haben, und später, wie ich dann anfing zu lesen, da hieß es auch, das sind großartige Bücher, die musst du lesen, das sind schlechte Bücher, die brauchst du gar nicht erst anzufassen.
Und es ist schon faszinierend, welchen großen Teil des sozialen Lebens das damals ausgemacht hat. Also, man hatte noch gar keine eigene Stimme, man war noch gar nicht unabhängig, sondern man tat eigentlich das oder las und hörte das, was angesagt war. Und in diesem Buch, meinem neuen Buch geht es eben auch um Unabhängigkeit und auch um den Kampf um Unabhängigkeit. Und ich bin mir noch nicht mal sicher, dass dieser Kampf bei mir schon abgeschlossen ist. aber wenn man so um die 20 ist, dann hat man immer das Gefühl, man sei schon unabhängig und man sei schon so frei, aber in Wirklichkeit ist man es noch gar nicht, sondern man wird praktisch unterdrückt von einem angesagten Geschmack.
"Beim Schreiben hat sich die Erinnerung in mir geöffnet"
Scholl: Im Band "Lieben", Herr Knausgård, steht dieser Satz: "Ich lebe davon, über jede kleinste Peinlichkeit zu schreiben, die mir jemals zugestoßen ist." Das könnte die Maxime für alle Bände sein, oder es ist die Maxime. Dennoch muss man sich aber erst mal an jede kleinste Peinlichkeit erinnern, und das frappiert, glaube ich, auch wieder jeden Leser aufs Neue, wie genau Sie sich anschließend erinnern können! Entweder müssen Sie ein Elefantengedächtnis haben oder über 50 Jahre täglich und akribisch Tagebuch geführt haben. Davon steht aber nichts zu lesen! Wie haben Sie sich eigentlich diese Tausende von Details und eben auch von so viel Peinlichem wieder erarbeitet?
Knausgård: Na ja, das hat sehr viel mit dem Schreibprozess letztendlich zu tun. Ich habe bei all den Büchern so angefangen, dass ich mich an kleine Dinge erinnern konnte, gewisse Details waren schon da. Und dann beim Schreiben hat sich sozusagen die Erinnerung in mir geöffnet und es kamen dann immer mehr Dinge zum Vorschein. Und dieser Prozess, je länger er andauerte, umso intensiver konnte ich mich dann plötzlich auch wieder an Dinge erinnern.
Das Verrückte ist halt nur, dass jetzt, wo dieser Schreibprozess abgeschlossen ist, ich mich gar nicht mehr daran erinnere. Ich habe das Buch sehr schnell geschrieben, innerhalb von acht Wochen, und in dieser Zeit kam alles wieder hoch. Aber es erscheint so, dass das Buch praktisch nur eine Art Werkzeug war, um diese Erinnerungen aufzuschreiben, die aber nicht in mir wirklich drinstecken. Aber genau das ist meine These, dass wir uns eigentlich an alles erinnern können, ganz egal, ob wir 16 oder 25 waren oder ein anderes Alter hatten, es steckt irgendwie in uns drin, es ist in unserem Gedächtnis, aber es ist in einem anderen Gedächtnis, es ist nicht unbedingt in unserem Jetztzeitgedächtnis, sondern es kommt eben hervor durch Prozesse wie Schreiben oder auch Psychoanalyse. Und dann kann man das alles wieder zum Vorschein bringen. Und ich glaube das wirklich und Proust hat das ja auch geglaubt und hat das ja auch benutzt. Und wie gesagt, das Gedächtnis ist eine verrückte Sache und manchmal erinnert man sich plötzlich an ein Ereignis, an das man 20 Jahre lang nicht mehr gedacht hat.
Scholl: Sie sind Jahrgang 1968 und waren in Ihrer Heimat schon vor "Min kamp" kein unbekannter Autor. Ihr Debüt 1998 wurde preisgekrönt, Ihr zweiter Roman "Alles hat seine Zeit" von 2004 ebenfalls. Und jetzt dieser fünfte Band, "Träumen", von "Min kamp" geht ja über diese Karriere des Schriftstellers, über den Anfang und dass Sie sich am Anfang so unsicher sind und glauben, das wird ja doch alles nichts. An einer Stelle heißt es: "Du bist nur ein eingebildeter, mittelmäßiger kleiner Furz!" Jetzt brechen Sie alle Rekorde mit diesen sechs Bänden, Herr Knausgård, jetzt sind Sie zumindest ein großer Furz. Wie gehen Sie denn damit um?
"Die Leute waren begeistert und ich habe mich richtig schlecht gefühlt"
Knausgård: Ja, aber ehrlich gesagt habe ich immer noch dieses Selbstbild von mir, dass ich ein mittelmäßiger, kleiner, dummer Schriftsteller bin. In mir steckt sehr viel Selbsthass. Ich war gestern in Zürich, ich habe dort eine ausverkaufte Lesung gehabt, habe eine Stunde gelesen, die Leute waren begeistert und ich habe mich danach richtig schlecht gefühlt, ich fand das alles so sinnlos. Da ist auf der einen Seite dieser Hype um mich, um meine Person und dann rede ich nur von mir in diesen Lesungen, und dann gibt es für mich aber eine ganz andere Realität.
Und mir ist eben einfach aufgefallen, dass das Einzige, was mir hilft, ist einfach nur zu schreiben. Also, das Schreiben als solches, das erdet mich in gewisser Weise. Und ich darf dann auch beim Schreiben nicht groß darüber nachdenken, oh, wird man mich als Schriftsteller nach diesem Buch noch mögen, oder werden sie plötzlich anfangen, meine Bücher nicht mehr zu lesen? Wenn man anfängt, so zu denken, dann ist man tot als Schriftsteller. Das heißt, man muss das alles ignorieren und einfach nur schreiben, einfach nur weitermachen.
Und nachdem ich meinen ersten Roman veröffentlicht hatte, war ich gierig nach Erfolg und ich war sehr ehrgeizig. Und als dieser Erfolg dann auch eintrat, hat es mich allerdings wieder nicht erfüllt, das war nicht erfüllend. Und das sind dann so zwei Welten. Es ist einerseits dieser Erfolg, den ich jetzt habe, und dann gibt es aber dieses Selbstbild, das ich von mir habe, das wiederum ein ganz anderes ist, obwohl es natürlich Aspekte gibt, die ich sehr mag. Es macht mir schon Spaß zu reisen, diese Bücher vorzustellen, andere Leute kennenzulernen. Aber zwischen dem Selbstbild und dieser anderen Realität, da liegen immer noch Welten.
Scholl: Oh Mann, Mister Knausgård, jetzt bin ich ganz kleinlaut geworden, weil ich denke, Mensch, der Mann fühlt sich wahrscheinlich genauso schlecht wie in Zürich jetzt hier. Ich hoffe, dass es nicht ganz so schlimm war. Vielen Dank, dass Sie da waren, alles Gute für "Träumen" und für dieses Gespräch, ich hoffe, wir sehen dann beim sechsten Band wieder. Thank you for being here, Mister Knausgård!
Knausgård: Thank you very much for having me here!
Scholl: Und "Träumen" von Karl Ove Knausgård ist jetzt im Luchterhand Verlag erschienen, aus dem Norwegischen übersetzt von Paul Berf, mit 800 Seiten zum Preis von 24 Euro, bei unserem Gespräch hat Jörg Taszman die Übersetzung besorgt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.